Die Reise zum Großen Fest
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
Die Reise zum Großen Fest
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


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Teil 4

Elfenzeichnung von Pia H. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, wußte er nicht, wie lange er so verharrt hatte. Mühsam rappelte er sich wieder auf. "Na gut", dachte er, "wenn es hier keinen Weg gibt, suche ich ihn eben woanders."
Wütend trat er gegen ein kleines Steinchen, das vor ihm gelegen hatte und nun durch den Tritt gegen die Felswand geschleudert wurde. Stolzbrust drehte sich um und wollte wieder um den Felsblock herumbiegen. Doch dann blieb er wie angewurzelt stehen.
Wieso hatte es kein Geräusch gegeben, als das Steinchen gegen die Felswand geprallt war? Oder hatte er es nur nicht gehört?
Er wandte sich wieder um und sah mißtrauisch zur Felswand hinüber. "Da wollen wir doch mal sehen", dachte der Hirsch. Er suchte sich ein weiteres Steinchen aus, das vor seinen Füßen lag und trat dagegen.
Es hob vom Boden ab und flog dem Fels entgegen. Doch statt beim Auftreffen abzuprallen, verschwand es vor den Augen des Hirsches in dem Fels.
Das konnte doch nicht sein. Ungläubig näherte sich Stolzbrust der Wand, immer wachsam blickend und riechend. Erst als er nur noch wenige Nasenlängen vom Fels entfernt war, erkannte er, dass ein riesiges Loch in ihn hineinführte. Fels und Loch waren so tiefschwarz, dass es schon auf geringe Entfernung unmöglich war, auszumachen, wo der Fels endete und wo das Loch begann.
Stolzbrust schob sich sehr vorsichtig immer näher an das Loch heran. Ganz geheuer war ihm nicht, dass er nichts, aber auch gar nichts vor sich sehen konnte. Dennoch wagte er sich Zentimeter für Zentimeter weiter. Vielleicht würden sich seine Augen ja auch nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnen und ihm zumindest etwas Orientierung gestatten. Nun war der Kopf des Hirsches in dem Loch und nur wenig später standen nur noch seine Hinterbeine im Freien. Langsam hob Stolzbrust seine Vorderfüße und tastete sich vorwärts. Es war jetzt klar, dass er eine Höhle betreten hatte. Vielleicht gab es ja einen weiteren Ausgang. Auf jeden Fall würde er sie sehr genau erkunden.
Und dann erinnerte sich der Hirsch daran, dass er einmal Herrn Grasklopfer, den Hasen, gefragt hatte, wie er sich bloß in all den Gängen seines Baus zurechtfinden könne. "Das ist kein Problem, weil ich mich einfach immer an der linken Wand entlang bewege. Wieviele Verschlingungen und Abzweigungen auch immer kommen, ich halte mich links", hatte der Hase geantwortet.
Mal sehen, was der Rat des Hasen wert war. Stolzbrust schob sich ganz langsam zur linken Seite hinüber, bis er seine Schulter die Felswand berühren fühlte. Dann tastete er sich - immer an der Wand entlang - vorwärts.
Es ging zwar nicht sehr schnell, doch er kam voran. Anfangs beruhigte es ihn, wenn er einen Blick zurückwarf und den hellen Sonnenschein durch den Höhleneingang sah. Doch dann bemerkte er, dass die Höhlenwand einen Bogen beschrieb und schon bald war hinter ihm - ebenso wie vor und neben ihm - nur tiefe erschreckende Schwärze.
Tastend, lauschend und witternd bewegte sich der Hirsch vorwärts.
Plötzlich fühlte er, dass seine Schulter den Kontakt zur Felswand verlor. Er wandte den Kopf nach links und sah einen schwachen Lichtschein.
"Na endlich", dachte er. Vorsichtig ging er um die Ecke herum und strebte dem Licht zu. Nach zwanzig Schritten knickte der Weg wieder ab, diesmal nach rechts, und nun konnte er vor sich ganz deutlich einen Ausgang aus der Höhle sehen.
Erleichtert machte der Hirsch einige schnelle Sprünge auf den Ausgang zu. Doch dann bremste er wieder ab und blieb stehen.
"Verliere jetzt nur nicht die Geduld", sprach er zu sich selbst. "Wer weiß, was dich da draußen erwartet. Sei lieber vorsichtig."
Also setzte er sehr langsam Fuß vor Fuß. Manchmal blieb er kurz stehen, um Ohren und Nase Gelegenheit zu geben, Gefahren zu melden. Doch nichts deutete darauf hin, dass es nicht sicher wäre, die Höhle zu verlassen. Dennoch trat er nicht eher ins Freie hinaus, bis er sich aus dem Schutz der Dunkelheit heraus davon überzeugt hatte, dass er es auch wirklich gefahrlos tun konnte. Halb heraus im Freien und noch halb in der Höhle drinnen, blieb er erneut stehen.
Er befand sich tatsächlich in der Senke, von der Gorama gesprochen hatte. Und dort vor ihm, mitten in der Senke erhob sich die Hütte.
Nein, das war keine Hütte. Eine Hütte bestand doch aus dünnem Holz oder aus Laub. Diese Behausung aber war aus dicken Steinen gebaut. Sie waren Lage für Lage aufeinander geschichtet und sorgfältig aneinander gefügt. Die dünnen Zwischenräume waren mit einer Masse zugeschmiert worden, die Stolzbrust nicht kannte. Diese seltsame Steinhütte war so weit in die Höhe errichtet worden, dass die oberste Lage Steine die Felswände der Senke überragte.
Vorsichtig trat der Hirsch endgültig ins Freie und begann um die Steinbehausung herum zu gehen. Auf dem Boden hatte sie einen Durchmesser von wohl etwa zwanzig Schritten. Doch sie schien sich nach oben hin zu verjüngen. Eine Tür oder ein Fenster konnte Stolzbrust in für ihn erreichbarer Höhe nicht entdecken. Es gab zwar Öffnungen in den Steinwänden, doch diese lagen so hoch, dass er sie keinesfalls erreichen konnte. Weder eine Rampe, noch eine Treppe führten zu ihnen hinauf. Ratlos blieb der Hirsch stehen. Bis hierher war er nun gekommen. Doch was sollte jetzt geschehen? Stolzbrust gestand sich ein, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was zu tun war.

Zeichnung von Hanne H.

Er umrundete die Behausung noch einmal, stieß aber auch dabei auf nichts, was ihm weiterhelfen konnte. Aus lauter Verzweiflung blieb er schließlich stehen, streckte den Kopf nach vorn in die Höhe und stieß aus voller Brust einen Schrei aus. Es war ein tiefer, heiserer, langgezogener Schrei, der klang, als komme er aus einer langen Röhre. Darum nennt man dies bei Hirschen wohl auch röhren und nicht einfach schreien. Erwartungsvoll blickte der Hirsch zu den Öffnungen in der Mauer empor. Doch es tat sich dort nichts.
Weil er aber keine bessere Idee hatte, fuhr er eben einfach mit dem Schreien fort. Irgendwann würde doch jemand darauf reagieren müßen. Eine Stunde lang rief er sich die Seele aus dem Leib - ohne Erfolg.
Er konnte nun beinahe nicht mehr und dachte schon daran, aufzugeben, als ein Raubvogel von einer Art angeflogen kam, die Stolzbrust noch nie gesehen hatte. Er sah einem Falken ähnlich, doch dann auch wieder nicht.
Der Vogel setzte sich auf die obersten Mauersteine und beobachtete ihn mißtrauisch, aber auch belustigt. Darum entschied sich der Hirsch, noch ein Weilchen zu röhren. Vielleicht konnte er das Interesse des Vogels soweit wecken, dass ein Gespräch mit ihm möglich wurde. Und tatsächlich, der vermeintliche Falke schwang sich kurz in die Höhe, jedoch nur, um sich auf dem unteren Rand einer Maueröffnung niederzulassen, die Stolzbrust am nächsten war.
"Darf ich fragen, was du hier eigentlich treibst?" fragte der Vogel. "Hast du etwa Schmerzen?"
Der Hirsch war froh, dass er mit dem Schreien aufhören konnte. "Ich möchte nur, dass die Bewohner dieser Hütte sich endlich zeigen, damit ich einige Fragen stellen kann."
"Hütte? Du nennst diesen Turm eine Hütte? Aus welchem verlassenen Winkel dieser Welt stammst du denn, dass du nicht weißt, wie ein Turm aussieht?" machte sich der Vogel über den Hirsch lustig.
"Wenn du es genau wissen willst, dann sage ich dir, dass ich aus dem Tal am Fuße des Berges Porot stamme und auf dem Weg zum Großen Fest der Elfen im Farbenwald bin. Und ob diese Hütte nun Turm heißt oder auch nicht, ist mir völlig einerlei."
"So, du bist also auf dem Weg zum Farbenwald", sagte der Vogel. Er sprach das Wort "Farbenwald" mit deutlich hörbarem Abscheu aus, wobei er die Betonung auf "Wald" legte. "Na, dann sieh zu, dass du zu dieser Ansammlung widerlicher Pflanzen kommst und belästige mich nicht länger mit deinem Geröhre."
Mit diesen Worten wollte er wieder losfliegen, doch Stolzbrust beeilte sich, ihm zuzurufen:
"Ich kann noch nicht weiterziehen - nicht bevor ich mit dem Bewohner dieses Turms gesprochen habe."
Dies weckte offensichtlich erneut die Neugier des Vogels. Jedenfalls blieb er zunächst sitzen und schien zu überlegen. Schließlich fragte er: "Und was willst denn so Wichtiges fragen?"
Dem Hirsch lag schon auf der Zunge, ihm zu sagen, dass ihn dies nichts anginge, doch er besann sich eines Besseren. Es war ja immerhin möglich, dass er in einem Gespräch mit dem Raubvogel etwas Nützliches über die Bewohner des Turmes erfahren konnte.
"Du mußt wissen, dass ich nicht allein unterwegs war. Wir waren zu dritt: Sasana, die Elfe, Gorama, die Taube und ich. Mein Name ist übrigens Stolzbrust. Jedenfalls sind uns bei unserer Wanderung durch dieses Gebirge ganz seltsame Dinge widerfahren. Und nun sind meine beiden Begleiterinnen auch noch spurlos verschwunden. Bevor ich sie nicht wiedergefunden habe, kann ich nicht weiter."
Während er redete, hatte der Hirsch überlegt, ob er die ganze Geschichte erzählen sollte. Weil er aber noch nicht wußte, ob dem anderen zu trauen war, entschied er sich, nicht zuviel zu verraten und erst einmal zu sehen, wie der Vogel reagieren würde.
Dieser fragte ihn: "Wie kommst du darauf, dass der Turmbewohner dir bei deiner Suche helfen kann?"
Stolzbrust zögerte einen Augenblick und entgegnete dann: "Gorama, die Taube, ist gestern zu diesem Turm geflogen, um die Lage zu erkunden. Sie ist nicht zurückgekehrt. Da liegt es doch nahe, die Bewohner zu fragen, ob sie die Taube gesehen haben."
"Ja", stimmte der Vogel nachdenklich zu, "das liegt nahe. Doch wie auch immer: ich habe keine Taube gesehen. Also suche sie gefälligst woanders und laß mir meine Ruhe."
Schon wieder wollte er den Hirsch einfach stehen lassen und abfliegen. Doch Stolzbrust war noch einmal schneller:
"Soll das heißen, dass du diesen Turm bewohnst?"
Der Vogel lachte: "Ich dachte, du liebst Naheliegendes. Dies ist ein Turm, ich bin ein Turmfalke, was liegt da näher, als dass ich in diesem Turm wohne?"
"Frißt du etwa auch Tauben?" fragte der Hirsch, dem ein schrecklicher Verdacht gekommen war.
Der Turmfalke schüttelte sich beinahe aus vor Lachen. "Turmfalken sind Raubvögel. Wenn sie eine Taube erwischen können, dann fressen sie sie tatsächlich auf."
"Und hast du Gorama erwischt?" wollte der Hirsch wissen, dem das Herz beinahe bis zum Hals schlug.
"Ich kann dich beruhigen", sagte der Raubvogel. "Ich habe deine Taube nicht erwischt und auch nicht gefressen."
Nun schwang sich der Vogel jedoch in die Höhe, ohne abzuwarten, ob der Hirsch noch mit ihm reden wollte oder nicht. Er umkreiste den Turm noch einmal und verschwand dann in einer der Maueröffnungen. Hoffentlich hatte der Turmfalke auch die Wahrheit gesagt. Gar nicht auszudenken, wenn er Gorama etwas angetan hatte. Doch es gab keinen Grund, dem Vogel nicht zu glauben. Was konnte Gorama aber sonst zugestoßen sein? Wenn der Turmfalke selbst nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, so bestand doch die Möglichkeit, dass er wußte, wer oder was die Ursache für all die Merkwürdigkeiten war, die den drei Reisenden zugestoßen waren. Also begann der Hirsch erneut, den Turm anzuröhren.
Es dauert gar nicht lange, da rief der Falke aus dem Inneren des Turmes: "Nun höre aber endlich auf. Ich habe deine Taube nicht gesehen."
"Das kann ja sein", rief der Hirsch zurück, "vielleicht weißt du aber sonst etwas, was mir weiterhelfen kann. Komm heraus und laß uns darüber reden."
"Du bist eine ziemliche Nervensäge", sagte der Falke. Und dann erschien in einer der Maueröffnungen ein Gesicht. Stolzbrust erschrak und ging zwei Schritte zurück. Das Gesicht war das eines Elf oder eines Zwerges, auf keinen Fall aber das eines Falken. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.
"Ich denke, du willst mit mir reden. Also los, sage, was du zu sagen hast", sprach das Gesicht - und die Stimme war eindeutig die des Falken.
"Wo ist denn der Turmfalke geblieben?" fragte Stolzbrust ungläubig.
Das Gesicht stutzte zunächst, hellte sich dann aber verstehend auf. "Oh, entschuldige. Das muß dir natürlich merkwürdig vorkommen. Der Falke bin ich. Nein, ich bin selbstverständlich ich - aber auch der Falke. - Das hört sich verrückt an, was? Warte, ich komme herunter und erkläre es dir."
Das Gesicht verschwand wieder im Inneren des Turms. Nach kurzer Zeit erschien in der untersten Öffnung der Mauer eine Gestalt, etwas größer, als ein Zwerg, aber noch immer kleiner, als ein Elf. Eine abgerissene und völlig verdreckte Hose und ein ebensolches Wams, beides viel zu weit, umschlotterten den dürren Körper. Lange graue Haare hingen vom Kopf herunter. Ein grauer Stoppelbart umrandete das Gesicht, dessen faltige braune Haut von Wind und Wetter gegerbt schien.
Die Gestalt hob ihre Arme und sprang herunter. Noch während des Falles verwandelte sie sich vor den Augen des Hirsches in den Turmfalken , der sicher auf dem Boden landete. Kaum berührten die Klauen des Raubvogels das Gestein, verwandelte er sich wieder in die merkwürdige Gestalt.
Stolzbrust wich noch einige Schritte zurück und starrte den Fremden unentwegt an. Dieser bemerkte natürlich die Verwirrung des Hirsches. "Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid", sagte er.
"Bist du ein Zauberer?" fragte Stolzbrust.
"Ich ziehe es vor, mit meinem Namen angeredet zu werden", sagte der Fremde. "Zauberer, Hexenmeister oder gar Magier - so lassen sich meist nur aufgeblasene Wichtigtuer nennen, die in langen wallenden Gewändern herumlaufen und lächerlich spitze Hüte auf dem Kopf durch die Gegend tragen. Ich habe Besseres zu tun. Mein Name ist Togur."
"Aber du kannst zaubern?" fragte Stolzbrust.
"Ich kenne das eine oder andere Geheimnis der Natur", erwiderte Togur. "Wenn du das, was dabei herauskommt als Zauberei bezeichnen willst, dann tu das nur ruhig weiter. Doch jetzt zurück zu dir. Worüber willst du mit mir reden?"
Stolzbrust wußte einen kurzen Moment nicht mehr, was er eigentlich von dem Zauberer gewollt hatte, so überrascht war er über diese Entwicklung. Doch dann fiel es ihm wieder ein. "Ich muß Sasana und Gorama unbedingt wiederfinden. Wenn du sie schon nicht gesehen hast, dann kannst du mir vielleicht helfen, sie zu suchen. Immerhin kennst du dich in diesem Gebirge aus."
Togur hatte ihm aufmerksam zugehört. Jetzt fragte er: "Und wer sind - Sasana und Gorama?"
"Das habe ich dir doch schon erzählt", erwiderte der Hirsch ungeduldig und verwundert. "Wir wollten gemeinsam zum Großen Fest der Elfen wandern."
"Ach ja, das Große Fest der Elfen", seufzte Togur beinahe wehmütig. "Es ist lange her, dass ich dort war und viel Spaß mit den anderen hatte."
"Du warst schon einmal bei dem Großen Fest der Elfen?" fragte der Hirsch.
"Aber natürlich!" rief Togur. "Schließlich bin ich doch ein Elf!"
Stolzbrust waren die Zweifel wohl sehr deutlich anzusehen, denn Togur fuhr fort: "Wenn du wegen meiner Größe - oder besser: wegen meiner Kleinheit - mich nicht für einen Elf hältst, sondern höchstens für einen Zehn oder Neuneinhalb, dann könnte ich dich verstehen." Er lachte über seinen eigenen Witz. "Ich bin aber ein Elf. Recht früh habe ich gemerkt, dass ich nicht für all das tauge, was eine Elfe oder einen Elf so beschäftigt. Darum bin ich zu einem Zauberer in die Lehre gegangen. Doch jetzt sage endlich, was du von mir willst."
Stolzbrust fiel es schwer, sich wieder auf sein Anliegen zu konzentrieren. Doch dann stellte er seine Frage: "Du kennst dich hier im Gebirge doch sicher sehr gut aus. Was könnte meinen beiden Freundinnen zugestoßen sein?"
Der zaubernde Elf dachte einen Augenblick nach und fragte dann: "Welchen beiden Freundinnen?"
Der Hirsch fragte sich innerlich, ob Togur sich über ihn lustig machen wollte. Laut sagte er aber: "Sasana und Gorama natürlich. Ich habe dir schon von ihnen erzählt."
"Tatsächlich?" wunderte sich Togur. "Was hast du mir denn schon erzählt?"
Stolzbrust sah die Verwirrung auf dem Gesicht des Elf. Er schien sich wirklich nicht mehr an das zu erinnern, was er vom Hirschen schon erfahren hatte. Also begann Stolzbrust noch einmal von vorn. Allerdings machte er es so kurz, wie nur möglich, weil er fürchtete, der Zauberer könnte den Anfang schon wieder vergessen haben, wenn er das Ende hörte.
"Das ist wirklich merkwürdig", sagte Togur schließlich. "Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir dies auch helfen würde. Sagtest du, dies sei alles gestern geschehen? Hmh, gestern war ich - glaube ich - gar nicht hier. Sonst wäre es gut möglich, dass ich etwas damit zu tun habe. Mir passieren immer irgendwelche unerklärlichen Dinge. Ich bin nämlich ziemlich vergeßlich."
"Was du nicht sagst. Das habe ich noch gar nicht gemerkt", meinte der Hirsch.
"Doch, doch, du darfst mir ruhig glauben. Es ist so", stellte der Elf eifrig fest. "Doch wo waren wir?"
"Du sagtest, dass du glaubst, du seist gestern überhaupt nicht zuhause gewesen. Wo warst du denn sonst?"
"So genau weiß ich das nicht mehr. Doch wenn ich nicht hier war, dann habe ich wahrscheinlich Barantas besucht."
"Barantas? Und wer ist das?" wollte der Hirsch wissen.
"Er ist ein guter alter Freund von mir. Wir besuchen uns gegenseitig, tauschen Zauberformeln aus, experimentieren gemeinsam herum und all solche Sachen. Er hilft mir auch immer, wenn ich durch meine Vergeßlichkeit wieder einmal ein Durcheinander angerichtet habe. - Habe ich schon gesagt, dass ich viele Dinge vergesse? Es ist ganz merkwürdig. An einiges erinnere ich mich noch nach Jahren. Anderes habe ich schon nach wenigen Augenblicken vergessen. Ich glaube, wir sollten Barantas aufsuchen. Vielleicht kann er dir helfen."
"Und wie weit ist es bis zu seiner Wohnung?" fragte Stolzbrust.
"Wir brauchen nur einen halben Flugtag", meinte Togur.
"Einen halben Flugtag?" Stolzbrust war entgeistert. "Du kannst doch nicht vergessen haben, dass ich ein Hirsch bin. Ich kann zwar vieles. Fliegen gehört allerdings nicht dazu."
Togur lachte: "Und du hast wohl vergessen, dass ich etwas zaubern kann. Da lernt selbst ein Hirsch das Fliegen."
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da hob er seine Arme, sprang in die Höhe und war schon wieder der Turmfalke. Er kreiste in der Luft und rief Stolzbrust zu: "Na los, folge mir. Spring einfach."
Stolzbrust schüttelte zwar mit dem Kopf, nahm aber dennoch einen kurzen Anlauf und sprang dann, als wollte er einen im Wege liegenden Baum überqueren. Und während er nicht mehr den Boden unter seinen Füßen spürte, ging mit seinem Körper eine merkwürdige Verwandlung vor sich. Sein Kopf wurde leichter, seine Vorderbeine streckten sich zur Seite weg und sein Rumpf schrumpfte zusammen. Er fühlte, wie ein Wind unter ihn fuhr und ihn in die Höhe hob. Er schaute nach unten und stellte fest, dass er schon einige Meter über dem Boden schwebte. "Hilfe!" rief er. "Hilfe! Was soll ich tun?"
Togur lachte: "Benutze einfach deine Flügel, du Hirsch."
Stolzbrust sah zur Seite und erkannte, dass er tatsächlich Flügel besaß. Er bewegte sie auf und nieder und staunte nicht schlecht, dass er nicht zu Boden stürzte, sondern tatsächlich flog.
Zunächst war es natürlich für ihn noch sehr ungewohnt, seine Vorderbeine als Flügel zu gebrauchen. Doch schon bald bereitete es ihm überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. Ganz im Gegenteil: er genoß es unbeschreiblich, in luftiger Höhe Kreise zu ziehen und auf den Boden hinunter zu sehen. Der Turmfalke Togur näherte sich ihm und rief: "Ist es nicht herrlich, so fliegen zu können?"
"Na und ob!" erwiderte Stolzbrust. "Es ist unbeschreiblich schön. Jetzt wird es aber Zeit, dass wir uns auf den Weg machen."
"Auf den Weg?" Togur schien schon wieder nicht zu wissen, wovon Stolzbrust sprach.
"Oh nein, nicht schon wieder", stöhnte der fliegende Hirsch. "Du weißt doch: wir wollen zu Barantas, deinem Freund. Das kannst du doch nicht vergessen haben."
"Barantas - ja natürlich. Wir fliegen zu Barantas. Na, dann folge mir."

Zeichnung von Hanne H.

Togur ließ sich von einem Aufwind ein gutes Stück höher tragen und schlug dann eine östliche Richtung ein. Stolzbrust folgte ihm und hoffte, dass der Elf tatsächlich noch wußte, wo Barantas wohnte. Mit etwas Glück gehörte dies zu den Dingen, an die sich der Zauberer auch noch nach Jahren erinnern konnte. Die Zielstrebigkeit, mit der Togur ihn führte, beruhigte den Hirsch etwas. Während sie über das Gebirge dahinflogen, fragte Stolzbrust den Elf:
"In welchen Vogel hast du mich verwandelt?"
"In einen Adler natürlich", erwiderte Togur. "Für einen Falken war dein Körper einfach etwas zu groß."
"Ein Adler", sagte Stolzbrust ehrfurchtsvoll. "Das paßt wirklich viel besser zu mir."
Togur lachte. "Bescheiden bist du ja grade nicht."
Die beiden Vögel kamen gut voran. Schon nach recht kurzer Zeit hatten sie das Gebirge hinter sich gelassen. Die Landschaft unter ihnen veränderte sich sehr schnell. Sie flogen nun über eine grasbewachsene weite Ebene. Bei dem Anblick des saftigen Grases überkam Stolzbrust ein Hungergefühl, und er erinnerte sich daran, dass er schon seit gestern morgen nichts mehr zu essen bekommen hatte. Doch als Adler konnte er ja wohl kaum grasen. Und bei dem Gedanken daran, das fressen zu müßen, was ein Adler verdauen konnte, wurde dem Hirsch ganz schlecht. Dann würde er eben noch solange warten müßen, bis er als Hirsch wieder festen Boden unter den Hufen hatte.
"Wie weit ist es denn noch?" fragte Stolzbrust.
"Du müßtest mit deinen Adleraugen schon den Hügel sehen können, in dem Barantas seine Höhle hat", antwortete Togur.
Stolzbrust blickte nach vorn und hielt nach einem Hügel Ausschau. Und tatsächlich, ein gutes Stück voraus erhob sich in der ansonsten völlig ebenen Grasfläche ein Hügel, auf den sie zusteuerten. Togur flog über ihn hinweg und landete auf der anderen Seite auf dem Boden. Stolzbrust machte sich einige Sorgen, ob er ebenfalls heil den Boden erreichen würde. Immerhin war es seine erste Landung, und er wußte nicht so recht, wie er sie bewerkstelligen sollte. Darum hatte er Togur sehr genau beobachtet. Nun versuchte er, es dem Zauberer nachzutun. Er näherte sich dem Boden, zog seine Füße nach unten und versuchte, die Flügel senkrecht zu stellen, um mit ihnen zu bremsen. Ehe er sich’s versah, stand er neben dem Turmfalken, der ihm interessiert zugesehen hatte.

"Du bist ein Naturtalent", meinte Togur, der sich nun wieder in den Elf verwandelte, der er eigentlich war.
"Vielen Dank", sagte Stolzbrust. "Wo ist denn aber nun dein Freund Barantas?"
Togur machte einige Schritte auf den Hügel zu, bückte sich und fuhr mit der Hand ins Gras. Er hob einen Stab auf, der dort versteckt gelegen hatte und schlug mit ihm auf den Boden. Dann legte er den Stab wieder hin und trat zwei Schritte zurück.
Nach wenigen Sekunden wurde aus dem Hügel heraus eine verborgene Tür aufgestoßen, und es erschien jemand in dem nun geöffneten Eingang. Stolzbrust konnte in diesem Fremden sofort einen weiteren Elf erkennen. Im Gegensatz zu Togur trug er das typische weite, graue Gewand eines Elf. Auch seine sonstige Erscheinung unterschied sich von der Togurs. Obwohl er aus einer Erdhöhle kam, machte er einen sehr sauberen und gepflegten Eindruck.
"Hallo, alter Freund", begrüßte er Togur. "Du bist schon wieder hier? Da hast du es aber nicht lange allein zuhause ausgehalten."
"Wie kommst du denn darauf?" fragte Togur einigermaßen erstaunt.
"Na, du bist doch erst heute morgen von hier aus aufgebrochen", erklärte Barantas. "Du hast es doch nicht schon wieder vergessen?"
Togur sah verlegen zu Boden. "Kann schon sein", gab er zu.
"Und wer ist dein Begleiter?" fragte Barantas mit Blick auf den Adler, der etwas hinter Togur stand.
"Ach ja, mein Begleiter", erinnerte sich Togur und sah sich um. "Das ist ....". Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern. "Das ist .... ein Adler."
"Quatsch!" entfuhr es Stolzbrust. "Oh, Entschuldigung. Das wollte ich nicht so energisch sagen. Ich bin natürlich nur vorübergehend ein Adler. Das hoffe ich jedenfalls. Eigentlich bin ich ein Hirsch. Und zwar ein recht hungriger Hirsch. Darum wäre ich sehr dankbar, wenn ich meinen eigenen Körper wiederhaben könnte."
Togur blickte Barantas schuldbewußt an. Doch als er sah, dass dieser herzlich lachte, fiel auch er in das Lachen ein.
"Na los, Togur, erlöse diesen armen Hirschen", forderte Barantas seinen Freund auf.
Togur nickte und machte dann eine kurze Handbewegung. Schon vollzog sich mit Stolzbrust wieder eine Verwandlung. Später berichtete er, dass es ein sehr merkwürdiges Gefühl war, als sich die Flügel wieder als Beine unter seinen immer schwerer werdenden Körper schoben und er auf dem Kopf das Gewicht seines großen Geweihs zu spüren begann. Genauer beschreiben konnte er das Gefühl jedoch nicht. Er wußte nur zu sagen, dass es überhaupt nicht wehgetan hat.
"Vielen Dank", sagte Stolzbrust, als er wieder in voller Größe auf seinen vier Beinen stand. "Es wird aber auch höchste Zeit, dass ich grasen kann. Seit gestern morgen habe ich nichts zu futtern bekommen. In diesem gräßlichen Gebirge wuchs ja kein einziges Blatt und kein einziger Halm."
"Togur mag eben nicht so viel Grün um sich herum", erläuterte Barantas. "Doch nun stärke dich nur tüchtig. Reden können wir hinterher noch." Und zu seinem Freund gewandt fuhr er fort: "Was treibt dich nach so kurzer Zeit zu mir zurück?"
Togur antwortete sehr verlegen: "So genau weiß ich es wirklich nicht. Doch es sieht so aus, als hätte ich mal wieder etwas angerichtet. Du wirst es sicherlich in den Griff bekommen."
Barantas nickte nachsichtig. "Dann setzen wir uns erst einmal ins Gras und sehen dem Hirsch bei seiner Mahlzeit zu."

So geschah es. Stolzbrust äste, dass es nur so eine Freude war.
"Weißt du wirklich nicht mehr, warum ihr beide zu mir gekommen seid?" wollte Barantas nach einer Weile von Togur wissen. Dieser schüttelte den Kopf: "Ich wollte, ich wüßte es. Doch ich kann mich nicht mehr erinnern. Wir müßen unbedingt etwas gegen diese Vergeßlichkeit unternehmen." Barantas blickte mitfühlend drein.
"Natürlich. Doch wir haben ja schon vieles ausprobiert. Leider ohne Erfolg. Ich weiß nicht mehr, was wir noch tun könnten."
"Sasana wüßte sicher Rat", mischte sich Stolzbrust ein, der sein Mahl mittlerweile beendet hatte.
"Sasana? Wer ist denn das?" fragte Togur.
"Ich hoffe, du bist nicht auch so vergeßlich", sagte Stolzbrust zu Barantas gewandt, "denn ich erzähle die Geschichte nun zum dritten Male. Es wäre schön, wenn es mir dieses Mal weiterhelfen würde."
Und so berichtete der Hirsch erneut von den seltsamen Ereignissen der beiden vergangenen Tage. Barantas hörte sehr aufmerksam zu und wurde im Laufe der Schilderungen immer nachdenklicher.
Als Stolzbrust schließlich geendet hatte, sah Barantas seinen Freund Togur an und sagte: "Was der Hirsch berichtet, ist tatsächlich sehr merkwürdig. Doch ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass das, was wir getan haben, wirklich damit zu tun hat."
"Was habt ihr beiden denn getan?" wollte Stolzbrust wissen. "Wir haben zwei Tage lang in Togurs Turm einige Zaubersprüche ausprobiert. Dabei ist uns zwar manches schief gegangen, doch nichts, was eine Elfe verschwinden lassen könnte. Dieser Erdrutsch oben auf dem Pass, der euch den Weg versperrte und zu dem Umweg durch Togurs Tal zwang und auch das mit dem sich immer wieder verändernden Stein - das geht wohl auf unser Konto. Aber sofort nach dem Experiment mit dem Stein haben wir uns auf den Weg von Togurs Turm zu meiner Behausung gemacht. Wir wollten in einem meiner Bücher noch einmal eine Formel nachschlagen."
"Was haben wir denn ausprobiert?" fragte Togur.
"Du wolltest ein kleines Steinchen in einen Smaragd verwandeln."
Stolzbrust wußte nicht, wovon die Rede war. "Was ist ein Smaragd?" fragte er.
"Weißt du, was ein Edelstein ist?" fragte Barantas. Doch der Hirsch schüttelte den Kopf.
"Es gibt sehr viele unterschiedliche Arten von Edelsteinen", erklärte Togur. "Smaragden, Diamanten, Saphire usw. Sie alle besitzen ihre eigenen geheimnisvollen Kräfte. Ich versuche schon seit einiger Zeit, herauszubekommen, welcher Stein welche Eigenschaften hat. Das ist ganz schön mühsam." Barantas unterbrach seinen Freund: "Wir sollten zum Wichtigsten kommen, bevor du wieder vergißt, worüber wir eigentlich reden." Und zu dem Hirsch gewandt fuhr er fort: "Wir suchen einen Stein, der gegen Togurs Vergeßlichkeit helfen kann."
Plötzlich sprang Togur auf die Füße. "Wo habt ihr die Rast verbracht, bei der du Sasana zuletzt gesehen hast?" fragte er den Hirsch aufgeregt.
Dieser sah den Zauberer verwirrt an. "Am Rande des Bergpfades."
"Nein, nein", rief Togur, "ich will wissen, ob das in der Nähe des Steines war, dessen Veränderungen dich so durcheinander gebracht haben."
"Ja, natürlich", erwiderte Stolzbrust.
"Dann könnte es sein - dann könnte es sein ..." Diesen Satz vollendete Togur nicht. Man konnte ihm sehr deutlich ansehen, dass er sehr angestrengt nachdachte. Keiner der beiden anderen traute sich, ihn in seinen Gedanken zu stören und ihn zu fragen, was denn sein könnte.
Togur lief zu Stolzbrust, legte ihm eine Hand an den Hals und sagte: "Stell dir folgendes vor. Barantas und ich sind in meinem Turm, um ein kleines Steinchen in einen Smaragd zu verwandeln. Und just zu dieser Zeit kraxelst du den Bergweg hinauf. Ich spreche meinen Zauberspruch und das kleine Steinchen verwandelt sich nach und nach in den Edelstein. Weil es aber nur ein Stückchen von dem großen Stein ist, der bei dir am Wegesrand liegt, wirkt mein Zauberspruch nicht nur auf dieses kleine Steinchen, sondern auch auf den großen Brocken, zu dem er ja gehört."
Stolzbrust dachte kurz nach und fragte dann: "Und hat sich dein Steinchen verwandelt ?"
"Aber ja", erwiderte Barantas, "das hat es."
"Na, der Stein am Wegesrand hat sich nicht verwandelt. Vielleicht war die Entfernung zu groß. Jedenfalls war er zum Schluß genau das, was er auch vorher war, nämlich ein ganz normaler Stein", sagte Stolzbrust.
"Das war er nicht", rief Togur. "Genau das war er nicht. Ihm fehlte nur eine Kleinigkeit für die endgültige Verwandlung." "Und was soll das gewesen sein?" Der Hirsch sah noch immer nicht, wohin das Ganze führen sollte. "Dann höre dir einmal den Zauberspruch an. Vielleicht fällt es dir ja etwas auf:
Du bist ein Stein, du bleibst ein Stein,
doch edel sollst du fortan sein.
Aus grau wird grün, aus rauh wird glatt -
ein Stein, der was besondres hat.
Und ist der Reim auch sehr vertrackt,
sei trotzdem künftig ein Smaragd,
der auf den Weg der Hoffnung führt,
wenn Elfenhand ihn nur berührt."
Togur hatte die letzte Zeile besonders betont und sah jetzt Stolzbrust erwartungsvoll an.
Und tatsächlich, allmählich dämmerte es dem Hirschen, worauf der Zauberer hinaus wollte.

Flußlandschaft - Eine Zeichnung von Hanne H.

Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
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