Sasanas Ferien
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
Sasanas Ferien
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
 Die Reise zum Großen Fest 
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


Elfenzeichnung von Pia H. In das Tal der Elfe Sasana am Fuße des Berges Porot kehrte nach mehreren Wochen Aufregung endlich wieder Ruhe ein.
Mit List und einer guten Portion Glück hatte Sasana die Talbewohner von einem lästigen Kobold befreit, der viel Unheil gestiftet hatte.
Die Elfe saß auf ihrem Lieblingssitz, einem bequemen Ast der Silberlinde. So richtig freuen konnte sie sich des neu gewonnenen Friedens nicht.
"Es wird sicher nicht lange dauern," dachte sie, "bis wieder irgend etwas geschieht, um das ich mich kümmern muß."
Sie seufzte. Natürlich half sie ihren Freunden im Tal sehr gerne, wenn diese in Not waren. Doch in der letzten Zeit war es etwas viel geworden.
"Ich müßte einmal so richtig ausspannen," dachte sie. Und dann hatte sie die Idee!
Sie verließ die Linde und suchte ihre Freundin und Beraterin, die Taube Gorama, auf.
"Ich mache Ferien," verkündete sie der Taube gutgelaunt.
Diese glaubte, nicht richtig gehört zu haben:
"Was machst du?"
"Ferien," wiederholte Sasana.
"Was?" fragte Gorama erneut.
"Ich verreise und erhole mich von all der Aufregung der letzten Wochen."
"Eine Reise ist doch keine Erholung," meinte die Taube. "So etwas ist doch eher beschwerlich."
"Das kommt darauf an, wie man reist," widersprach Sasana. "Ich habe vor, es mir so bequem wie nur möglich zu machen. Vielleicht läßt mich eines unserer Wildpferde auf sich reiten. Ich werde sie gleich fragen."
"Und wohin soll es gehen?" Gorama konnte noch nicht so recht verstehen, was vor sich ging.
"Zu den sieben Zwergen natürlich," gab die Elfe geheimnisvoll zur Antwort, während sie schon in Richtung des Quellsees davonschwebte, an dem die Wildpferde um diese Tageszeit immer zu finden waren.
"Wie lange wirst du denn fort sein?" rief ihre Freundin ihr nach.
Doch Sasana hörte sie schon nicht mehr.
Nur wenig später saß sie bereits auf Kandar, einem kräftigen jungen Wildpferd und ritt dem Pass auf dem Berge Porot entgegen. Das Reisefieber hatte sie gepackt.

Zeichnung von Hanne H.

Drei Tage waren Kandar und Sasana nun schon unterwegs. Sie genossen ihren Ritt, denn niemand trieb sie zur Eile.
"In diesen Wald habe ich vorher noch nie einen Fuß gesetzt," meinte das Wildpferd. "Bist du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?"
"Aber ja, mache dir keine Sorgen," entgegnete Sasana. Sie schmunzelte und fuhr fort:
"Kann es sein, dass du eigentlich wissen wolltest, wohin unsere Reise geht?"
Kandar schnaubte verlegen.
"Wie kommst du denn darauf?"
Sasana lachte. "Seit ich den Eichelhäher gebeten habe voraus zu fliegen, um unser Kommen anzumelden, hast du jede Stunde auf immer neue Weise versucht, mir das Ziel unserer Reise zu entlocken."
"Du hättest mich ja zuhören lassen können, als du mit dem Häher gesprochen hast. Ich verstehe eben deine Geheimniskrämerei nicht," brummte das Pferd.
"Es ist nur ein Spiel, das ich sehr genossen habe," lachte die Elfe. "Es hat unsere Reise kurzweiliger gemacht. Da wir aber ohnehin bald unser Ziel erreichen, sollst du nun erfahren, was dich erwartet. Schon seit etwa zwei Stunden befinden wir uns im Revier eines guten Freundes, den ich besuchen möchte. Er heißt Orin und ist ein Zwerg."
"Ein Zwerg?" Kandar war neugierig. „Gehört habe ich schon von solchen Wesen, mir ist aber noch nie eines begegnet. Es heißt, sie graben in der Erde nach Schätzen. Was soll das für einen Sinn haben?"
"Du hast ganz Recht, das hätte keinen Sinn. Darum tun die Zwerge das auch nicht," erwiderte Sasana. "Zwerge sind die Gärtner der Wildnis. Sie kümmern sich um die Pflanzenwelt ihres Reviers. Sie benötigen dabei sehr oft Hacke und Schaufel, um den Erdboden zu lockern oder umzugraben. Darum ist dieses Gerücht mit der Schatzsuche entstanden."
"Wo gibt es hier einen Schatz?"
Die Stimme, die diese Worte sprach, schien zu einem Baum am Wegesrand zu gehören.
Kandar hielt verblüfft an und beäugte den Baum argwöhnisch. Sasana aber tätschelte beruhigend seinen Hals und sagte:
"Nur die Ruhe bewahren. Orin macht sich einen Jux." Und zu dem Baum gewandt fuhr sie fort:
"Zeige dich schon und ängstige meinen Freund nicht." Nun trat tatsächlich eine Gestalt hinter dem Baum hervor. Das auf zwei Beinen gehende Wesen war etwa einen halben Meter groß und ziemlich dick. Es trug eine braune Hose, die am Bauch sehr eng saß. Der Oberkörper wurde von einem Wams bekleidet, das aus lauter bunten Flicken zu bestehen schien. Alle Farben des Waldes fanden sich in ihm wieder.
Der Zwerg sah so gar nicht aus, wie Kandar sich nach den Erzählungen der anderen Tiere einen Zwerg vorgestellt hatte. Er trug weder einen Bart, noch eine rote Zipfelmütze. Dafür glänzte sein Kopf im Sonnenlicht. Die mit glitzernden Schweißperlen besetzte Glatze wurde von einem schmalen Haarkranz begrenzt.
Sein Gesicht strahlte, als er Sasana, die vom Rücken des Pferdes heruntergerutscht war, begrüßte.
"Lange haben wir uns nicht gesehen, viel zu lange," sagte der Zwerg. "Um so schöner ist es, dass du nun hier bist."
"Ja," sagte die Elfe, "es ist wirklich sehr schön, zu sehen, dass sich manches niemals verändert. Deine Freundschaft gehört dazu."
Sasana stellte Kandar vor. Orin hieß auch ihn willkommen. Dann sprach er:
"Laßt uns nicht länger hier verweilen. Kommt, ich führe euch zu meinem Lager."
Der Zwerg schritt aus, und die beiden Reisenden folgten ihm. Nach kurzer Zeit verließ er den Waldweg und schlüpfte zwischen zwei Büschen hindurch. Dann ging es auf sehr schmalen und verschlungenen Pfaden durchs Dickicht.
Und als auch ein Pfad nicht mehr zu erkennen war und Kandar schon glaubte, sie hätten sich verirrt und seien steckengeblieben, trat Orin zu einem hohlen, halbverwitterten Baum, griff in ein Loch in dessen Stamm und zog an einem dort versteckten Seil.
Wie von Zauberhand bewegt teilte sich ein Gebüsch, das ihnen zuvor den Weg verstellt hatte und machte den Eingang in eine Lichtung frei, die als Zwergenlager hergerichtet war.
Die Lichtung wurde an drei Seiten durch dichtes Gestrüpp und Gesträuch begrenzt, durch das es kein Durchkommen gab.
An der vierten Seite waren zwei niedrige Hütten aufgestellt. Zu deren Rechten stützten vier Holzpfeiler ein dichtes Laubdach, unter dem ein einfacher Tisch und zwei breite Bänke standen.
Der Tisch war bereits gedeckt: ein großer Krug Wasser, eine Salatschüssel, drei Teller, Gläser und Gabeln. In unmittelbarer Nähe waren eine Futterraufe und ein Wassereimer aufgestellt.
Orin breitete seine Arme aus: "Fühlt euch wie zuhause, und greift erst einmal tüchtig zu. Ich hole nur noch etwas Brot und Käse."
Er verschwand in einer der Hütten.
Kandar schüttelte verwundert den Kopf: "Erwartet er denn nun, dass ich mich an den Tisch setze oder dass ich mich an der Raufe bediene?"
Sasana lächelte. "Für dich ist wohl die Raufe gedacht und nicht das dritte Gedeck. Doch auch ich bin neugierig. Wer gehört wohl zu dem dritten Platz am Tisch?"
Der Zwerg trat wieder aus der Hütte heraus. Er trug einen Laib Brot, ein großes Stück Käse und ein Messer auf.
"Nun tut mir den Gefallen und langt zu. Es ist genug da."
"Sollten wir nicht noch warten?" fragte Sasana und blickte zu dem dritten eingedeckten Platz am Tisch.
Orin folgte ihrem Blick und sagte dann:
"Nein, nein - das ist schon in Ordnung. Sinead wird wohl noch ein Weilchen unterwegs sein."
"Und wer bitte ist Sinead?" fragte die Elfe.
"Oh," sagte Orin, "ich dachte, du hättest es schon gehört. Seit einigen Wochen habe ich aus Fada Hilfe für mein Revier erhalten. Sie heißt Sinead."
"Fada ist die Schule für Zwerge, die in die Reviere geschickt werden," erläuterte Sasana dem Wildpferd, das sie bei der Erwähnung dieses Namens fragend angeschaut hatte.
"Werden denn nicht alle Zwerge - wie hast du gesagt - ´in die Reviere geschickt`?" fragte Kandar.
"Oh nein," entgegnete die Elfe, "die meisten von ihnen leben in Dorfgemeinschaften zusammen. Nur ein kleiner Teil geht hinaus in die Wälder, um dort zu arbeiten."
"Und wir Revierzwerge sind schon ein merkwürdiges Völkchen," ergänzte Orin. "Man wird halt ein wenig sonderbar, wenn man tagein, tagaus mit sich selbst genug haben muß."
"Mußt du denn hier arbeiten?" wollte Kandar wissen.
"Es hat mich niemand gezwungen," antwortete der Zwerg. "Ich habe es mir selbst ausgesucht und bin’s auch zufrieden. Trotzdem ist es schön, nicht mehr ganz allein zu sein."
Er griff nach dem Wasserkrug und füllte das Glas der Elfe.
"Probiere es einmal. Du wirst sehen, es ist sehr frisch und kühl. Mein Brunnen hat so gutes Wasser, wie du es sonst nirgendwo findest."
Erwartungsvoll sah Orin die Elfe an. Also nahm sie einen Schluck. Der Zwerg hatte Recht, selten hatte sie so gutes Wasser getrunken. Daher lobte sie es auch entsprechend, was ein befriedigtes Lächeln auf Orins Gesicht zauberte.
"Es wird Sinead freuen, dass es dir so schmeckt. Sie hat nämlich meinen alten Brunnen umgebaut. Erst seit dieser Zeit läßt sich das Wasser wieder genießen."
"Sie scheint ja wirklich sehr tüchtig zu sein," meinte Sasana.
"Na und ob," sagte der Zwerg eifrig. "Sie macht mir sehr viel Freude. Und wenn du es nicht weitersagst, gestehe ich dir auch, viel mehr von ihr gelernt zu haben, als sie von mir."
Er zögerte einen Augenblick und fuhr dann nachdenklich fort: "Ich habe wahrscheinlich viel zu lange in meinem eigenen Saft geschmort und dabei einiges vergessen."
Es trat wieder eine kurze Pause ein, die er schließlich mit einer Handbewegung beendete, die aussah, als sollte sie seine Gedanken verscheuchen.
"Genug davon! Erzähle lieber, wie es um dein Tal steht," forderte er Sasana auf.
Diese begann dann von ihren Freunden zu erzählen. Und als sie dies tat, stellte sie fest, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.
"Wie gut es mir doch geht," dachte sie bei sich, während sie erzählte.
Orin lauschte sehr aufmerksam, wog bedenklich sein Haupt, wenn etwas Unerfreuliches zur Sprache kam und lachte herzlich, wenn von Schönem die Rede war. Fiel ein Name, den er kannte, wollte er mehr darüber wissen, wie es dem- oder derjenigen ginge.
Sasana hatte grade die Begebenheit mit dem Kobold zuende geschildert, als der Eingang zur Lichtung geöffnet wurde.
Herein trat eine Zwergenfrau, die einen prallgefüllten Sack über ihrer Schulter trug.
Sie hatte halblanges üppiges Haar, das ein fein geschnitttenes, schönes Gesicht mit lustigen Lachgrübchen umrahmte. Auch sie trug die typische Kleidung der Waldzwerge.
Nachdem sich das Gesträuch wieder hinter ihr geschlossen hatte, stellte sie den Sack ab und kam zu dem Tisch herüber.
Orin war bei ihrem Anblick aufgestanden und streckte ihr nun einen Arm entgegen. Als die Zwergin näher kam, legte er ihr die Hand auf die Schulter und sagte: "Dies ist Sinead, von der ich schon erzählt habe."
Die eine Hand noch immer auf ihrer Schulter deutete er mit der anderen auf seine Gäste und fuhr fort:
"Und dies sind Sasana, die Elfe und Kandar, das Wildpferd. Es sind die Freunde, deren Besuch uns angekündigt wurde und die einige Zeit bei uns bleiben werden."
"Du hast Freunde?" fragte die Zwergenfrau. "Das ist ja ganz neu, dass ein alter Griesgram, wie du einer bist, Freunde hat."
Bei diesen Worten lächelte sie schelmisch. Dann begrüßte sie Sasana und Kandar herzlich.
"Es ist schön, wieder jemanden zu treffen, mit dem ein normales Gespräch möglich ist," sagte sie.
"Sie ist halt ein wenig vorlaut," warf Orin ein. "Zur Strafe werde ich sie einfach noch mehr arbeiten lassen. Dann wird ihr das Scherzen schon vergehen."
Er gluckste bei diesen Worten vor Vergnügen.
"Da seht ihr mal, wie ich hier behandelt werde," wandte sich Sinead an die beiden Gäste. "Ihm wär’s am liebsten, ich würde ihm alle Arbeit abnehmen und ihn noch dazu von vorne bis hinten bedienen. Er ist nun einmal ein alter Ausbeuter."
Sasana lachte: "Na, ihr beiden scheint euch ja gut zu verstehen."
Sie blickte von Sinead zu Orin und wieder zurück. Orin strahlte. "Du hast ganz Recht." Und zu Kandar gewandt sagte er: "Nun schau nicht so verdutzt drein. Sinead und ich necken uns sehr gerne. Nimm bloß nicht alles ernst, was du hörst."
"Tut, was immer euch gefällt," entgegnete das Wildpferd. "Die Hauptsache ist, ihr wißt, was Scherz und was Spaß ist."
"Gut gesprochen," meinte Orin.
Die beiden Zwerge und Sasana nahmen am Tisch Platz. Orin und die Elfe tauschten noch einige alte Geschichten aus und frischten Erinnerungen auf. Kandar und Sinead hörten sehr aufmerksam und gespannt zu. Es wurde noch ein sehr kurzweiliger, vergnüglicher Tag.
Als die Nacht hereinbrach bot Orin der Elfe seine Hütte an; er selbst wollte bei Kandar unter dem Laubdach schlafen. Alle Proteste der Elfe, sie wolle den Zwerg doch nicht seines Lagers berauben, halfen nichts. Orin bestand darauf, auf einer der Holzbänke zu schlafen.
Und so geschah es auch.

Zeichnung von Hanne H.

Sasana erwachte, als die Morgensonne schon eine Weile am Himmel stand. Sie erhob sich und trat aus der Hütte heraus. Sinead begrüßte sie und stellte ihr das Frühstück auf den Tisch.
"Da du erst jetzt aufstehst, muß ich dich wohl nicht fragen, ob du gut geschlafen hast," lachte die Zwergin.
"Wie auf Wolken habe ich geschlafen," erwiderte Sasana. "Wo sind die anderen?"
"Orin und Kandar sind schon vor zwei Stunden zu einem Rundgang durchs Revier aufgebrochen. Sie wollten dich wecken, doch ich konnte sie davon überzeugen, dich besser ausschlafen zu lassen."
"Hab vielen Dank," sagte die Elfe.
Sie frühstückte mit gutem Appetit.
Sinead hatte sich mittlerweile den Sack geholt, den sie am gestrigen Tag mitgebracht hatte. Sie entleerte ihn und setzte sich vor den Berg von Früchten auf den Boden, der nun vor ihr lag.
Es waren kleine kugelige Früchte, die aussahen, als seien sie Birnenäpfel oder Apfelbirnen. Ihre Schale war gelb, rotwangig und voller heller Punkte. Einige waren allerdings auch noch grün.
Sinead sortierte die Früchte nach dem Grad ihrer Reife. Sasana war neugierig.
"Was ist denn das für eine Frucht? So etwas habe ich noch nicht gesehen."
"Das glaube ich gern," antwortete Sinead. "Der Baum, von dem diese Früchte stammen, ist auch sehr selten geworden - leider. Er heißt Speierling. Trotz der vielen Früchte, die er trägt, vermehrt er sich kaum noch. In Orins Revier gibt es nur noch einen einzigen Baum dieser Art. Dieser ist aber auch schon so alt, dass wir uns Sorgen machen, ob er im nächsten Jahr noch einmal trägt. Orin versucht schon einige Jahre, aus den Früchten neue Bäume zu ziehen. Bisher ohne Erfolg. Wollen wir hoffen, dass es in diesem Jahr gelingt."
"Sind diese Speierling-Äpfel eßbar?" fragte Sasana.
"Wenn sie so reif sind, wie diese hier," Sinead hielt eine Frucht hoch, deren Gelb schon sehr bräunlich aussah, "dann kann man sie essen. Sie schmecken aber nicht sonderlich gut."
"Darf ich eine kosten?" fragte Sasana.
Sinead reichte ihr eine Apfelbirne. Vorsichtig biß die Elfe ein Stück ab und zerkaute es.
"Stimmt, sie schmeckt ziemlich fad," sagte sie. Und nach einer Weile: "Außerdem hat sie einen bitteren Nachgeschmack."
"Auch den Vögeln schmeckt diese Frucht nicht so gut," meinte die Zwergin. "In diesem Wald finden sie viel Wohlschmeckenderes. Das macht es ja so schwierig."
Sinead zerteilte mit einem Messerchen eine Frucht und zeigte der Elfe das Innere, in dem fünf Samenkörner lagen.
"Aus diesem Samen wachsen - wenn alles gut geht - die Bäume. Bei diesem Baum nützt es aber nichts, wenn man den Samen einfach in den Boden einpflanzt. Die Früchte müssen erst einmal von Vögeln verspeist werden. Den Samen können die Vögel nicht verdauen. Sie scheiden ihn also wieder aus. Und erst dann kann das Einpflanzen gelingen. Solange die Vögel aber Vogelbeeren, Holunderbeeren, Bucheckern, Eicheln oder Kastanien finden, rühren sie die Früchte des Speierlings nicht an. Darum sammle ich sie ein, suche die reifsten Früchte heraus und versuche, sie an Vögel zu verfüttern."
"Soll ich einmal mit einigen Vögeln reden?" fragte die Elfe. "Wenn ich ihnen den Fall erkläre, helfen sie vielleicht."
"Orin und ich haben dies auch schon versucht," erwiderte Sinead. "Doch die Vögel in diesem Wald sind nicht von der Art, wie du sie aus deinem Tal kennst. Sie kämpfen jeden Tag ums Überleben und sind dadurch ziemlich hart geworden. Du kannst es natürlich dennoch versuchen. Vielleicht hast du ja mehr Glück."
"Wir werden sehen," meinte Sasana, "wir werden sehen."
Dann half sie der Zwergin, die besonders reifen Früchte herauszusuchen. Gemeinsam ging ihnen die Arbeit gut von der Hand.
Als sie fertig waren, fragte Sinead: "Soll ich dir die schönsten Stellen des Waldes zeigen?"
"Das wäre sehr lieb von dir," erwiderte Sasana.
So machten sich die beiden auf den Weg. Während sie durch den Wald zogen, erklärte Sinead der Elfe vieles. Sasana war beeindruckt, wieviele unterschiedliche Baumarten in diesem Zwergenrevier wuchsen.
"Wir haben bisher 34 Arten gezählt," sagte Sinead. "Darunter auch einige, die es in diesem Teil der Welt gar nicht geben sollte. Dort steht eine solche."
Sie deutete auf einen über zwanzig Meter hohen Laubbaum. Seine Krone war sehr breit, jedoch nicht sonderlich dicht. Sein Stamm war von einer rissigen, dunkelgrauen Borke umgeben. Sinead nahm ein Blatt von einem abgerissenen Zweig, zerrieb es in ihren Händen und hielt diese dann der Elfe hin, die daran roch.
"Hmh, riecht das gut," wunderte sich Sasana. "Was ist das für ein Baum?"
"Ein Walnussbaum," antwortete Sinead. "Er gehört eigentlich nicht hierher und wächst trotzdem sehr gut."
So lernte Sasana von der Zwergin einiges über Bäume, was sie zuvor noch nie gehört hatte. Sinead konnte über jede Art viel Interessantes erzählen.
Schließlich konnte Sasana sogar eine Traubeneiche von einer Stieleiche und diese von einer Flaumeiche unterscheiden.
Als sie dann vor einer Sommerlinde standen, fragte Sasana:
"Eine Silberlinde habt ihr hier wohl nicht?"
"Nein," lachte Sinead, "da mußt du schon wieder in dein Tal zurück, um einen solch seltenen Baum zu sehen."
"Macht nichts," sagte die Elfe. "Es ist auch so sehr schön in eurem Wald."
"Orins Wald," verbesserte Sinead, "ich bin nur seine Gehilfin."
Eine Weile liefen die beiden schweigend nebeneinander her.
"Du hast Orin jedenfalls sehr gut getan," sagte die Elfe.
"Wie meinst du das?" wollte Sinead wissen.
"Ich kenne Orin schon sehr lange. Doch ich habe ihn noch nie an einem Tag soviel lachen hören, wie gestern. Er hat auch noch nie soviel geredet. Du hast ein kleines Wunder an ihm vollbracht."
Verlegen wandte Sinead ihren Blick zur Seite.
"Das liegt wohl an deinem Besuch," sagte sie. "Er hat sich schon seit Tagen darauf gefreut und von nichts anderem geredet, seit der Eichelhäher deine Nachricht gebracht hat."
"Nein," erwiderte Sasana bestimmt, "das warst schon du. Ich habe sehr genau bemerkt, wie Orin dich ansieht und wie er mit dir spricht. Und welchen Klang seine Stimme hat, wenn er von dir erzählt. Das hat nichts mit mir und alles mit dir zu tun."
"Glaubst du wirklich?" fragte die Zwergin.
"Aber ja, ganz sicher," antwortete die Elfe.
Und dann wurde ihr Gespräch jäh unterbrochen.
Nicht weit von ihnen entfernt, zu ihrer Linken, ertönte ein herzzerreißender Vogelschrei.
Sinead zögerte nicht lange und lief in die Richtung, aus der der Schrei erklungen war. Sasana brauchte einige Augenblicke länger, ehe sie nach diesem markerschütternden Schrei wieder zu einer Bewegung fähig war. Doch dann folgte sie der Zwergin, die schon einen gehörigen Vorsprung hatte und gerade hinter einem Goldregenstrauch verschwand.
Als die Elfe ebenfalls diesen Strauch erreichte, sah sie Sinead vor einem Vogel knien, der seine Flügel nur noch lahm bewegen konnte.
Sie trat näher und erkannte, dass sich die große Amsel in einer Schlinge aus einem merkwürdigen dünnen Material verfangen hatte. Sinead streichelte den Vogel beruhigend und versuchte die Schlinge zu lösen. Doch das war gar nicht so einfach, weil die Schlinge schon sehr eng zusammengezogen war. Je verzweifelter die Amsel versucht hatte, sich zu befreien, um so enger wurde ihr der Hals.
Sasana kniete sich ebenfalls hin und nahm den Vogel so in ihre Hände, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Jetzt gelang es der Zwergin, die Schlinge wieder zu weiten und sie über den Kopf zu ziehen.
"Jetzt kommen diese widerlichen Tierquäler auch schon in dieses Revier," schimpfte Sinead. "Orin muß es sofort erfahren. Hoffentlich ist er schon wieder im Lager. Komm schnell," sagte sie zu Sasana, "und bringe die Amsel mit; wir müssen ihr helfen."
Die beiden machten sich eilig auf den Heimweg. Sasana hielt den regungslosen Vogel in ihren Händen. Es beruhigte sie, seinen Herzschlag unter ihren Fingern zu spüren. Sie folgte der Zwergin, die wieder die Führung übernommen hatte.
Als sie eine kleine Wiese überquerten, sah Sasana an deren Rand aus den Augenwinkeln heraus eine bestimmte Pflanze wachsen.
"Sinead, warte bitte einen Augenblick," rief sie und blieb stehen. Auch die Zwergin hielt inne und sah sich um.
"Komm rasch her," forderte Sasana sie auf. "Siehst du diese Pflanze mit den gefiederten Blättern und den gelben Blüten?"
Sinead wußte nicht genau, welche Pflanze Sasana meinte, denn es standen dort mehrere mit gelben Blüten. Sie zeigte auf eine davon.
"Nein, nein," Sasana schüttelte heftig den Kopf. "Etwas weiter rechts - genau!"
Jetzt hatte die Zwergin auf die richtige Blüte gedeutet. "Das ist Wundklee. Den brauchen wir, um den Hals der Amsel zu behandeln."
Sinead stach mit ihrem Messerchen einige Pflanzen aus. Und schon gings wieder im Eiltempo weiter.
Ziemlich erschöpft erreichten sie das Zwergenlager.

Zeichnung von Hanne H.

Orin und Kandar waren dort schon vor einer Stunde eingetroffen und unterhielten sich angeregt.
Als sie ihre beiden Freundinnen so abgehetzt sahen, erschraken sie sehr.
Sasana drückte Orin die Amsel in die Hände und sagte außer Atem: "Halte sie sehr vorsichtig. Sie ist verletzt. Ich muß jetzt erst einmal die Medizin machen. Sinead wird dir derweil alles erzählen."
Mit diesen Worten nahm sie den Wundklee an sich und verschwand in Orins Hütte.
Sinead berichtete, was die Elfe und sie erlebt hatten und zeigte die Schlinge her, die sie mitgebracht hatte. Orin setzte sich und strich mit einer Hand beruhigend über die Brust der Amsel.
"Nun sind sie also auch in meinem Revier," sagte er. "Sie können aber auch nichts und niemanden in Ruhe lassen."
Kandar beschnupperte die Schlinge, die Sinead noch immer hielt.
"Was ist denn das? Ein Seil ist es jedenfalls nicht." Er war sehr verwundert.
"Nein," erwiderte Sinead. "Dieses Zeug nennt man Draht. Die Menschen stellen es her und bauen damit Fallen, mit denen sie Tiere fangen wollen."
"Menschen?" fragte Kandar. "Was sind Menschen?"
Orin ergriff das Wort: "Das sind Zweibeiner wie wir. Aber sie sind erheblich größer als wir - sogar noch größer als Sasana. Und es werden immer mehr. Bald wird es nicht ein Fleckchen mehr geben, auf dem man vor ihnen sicher ist."
"Sind sie denn so böse?" wollte Kandar wissen.
"Wer ist schon böse?" fragte Orin zurück. "Sie sind einfach nur gedankenlos und selbstsüchtig. Sie glauben, die Welt gehöre nur ihnen."
Nun kehrte Stille in das Zwergenlager ein.
Sinead war hinter Orin getreten, hatte eine Hand auf seinen Kopf gelegt und sah ihm zu, wie er gedankenverloren die Amsel streichelte.
Kandar dachte tief und angestrengt über das nach, was ihm der Zwerg gesagt hatte.
Dann trat Sasana aus der Hütte heraus und brachte die aus dem Wundklee gefertigte Medizin. Sie behandelte damit die Halswunde der Amsel.
Orin suchte inzwischen etwas, was dem verletzten Vogel als Lager dienen konnte. Schließlich brachte er einen Topf, in den er Gräser und Laub gefüllt hatte. Darauf wurde die Amsel gebettet.
Nun saßen und standen die vier Freunde, jeweils in die eigenen Gedanken vertieft, eine geraume Weile schweigend beieinander.
Sinead brach das Schweigen.
"Wir werden wohl das ganze Revier danach absuchen müssen, ob noch mehr Fallen aufgestellt wurden."
"Ja," sagte Orin, "das werden wir wohl müssen. Wo eine Falle ist, gibt es auch noch weitere."
Und zu Sasana gewandt fuhr er fort:
"Würdest du bitte noch mehr Heilkräuter sammeln? Ich fürchte nämlich, dass wir noch einige Tiere finden, die sich in solchen Schlingen verfangen und verletzt haben."
Sasana sagte ihre Hilfe natürlich zu.
Es wurde verabredet, dass Kandar die Zwerge begleiten sollte. Falls sich ein größeres Tier verletzt hatte, würde seine Tragkraft vonnöten sein, um es zum Zwergenlager zu schaffen.
So machten sich alle an die Arbeit.
Am Ende des Tages glich die kleine Lichtung einem Krankenlager.
Die vier Freunde hatten alle Hände und Hufe voll zu tun. Die Zwerge hatten nur einen kleinen Teil des Reviers absuchen können, weil sie so viele gefangene Tiere hatten befreien und zu Sasana tragen müssen.
Zwölf Vögel, acht Hasen und zwei Rehe mussten an diesem Tag versorgt werden.
Auch die nächsten Tage verliefen nicht anders.
Unermüdlich durchstöberten die Zwerge jedes Gesträuch, zerstörten Fallen und trugen verletzte Tiere nach Hause. Sasana suchte Heilkräuter, stellte Medizin her und pflegte die Verletzten.
Eines Tages kamen Orin, Sinead und Kandar mit leeren Händen ins Lager. Sie hatten keine Falle mehr entdeckt. Als dies auch an den folgenden zwei Tagen so blieb, atmeten alle auf.
Die Fallensteller schienen weitergezogen zu sein. Dennoch ging Orin jeden Tag in sein Revier, während Kandar und Sinead im Lager blieben, um Sasana zu helfen.
Die verletzten Tiere erholten sich recht gut und kamen zusehends wieder zu Kräften.
Als auch der letzte Hase sein Krankenlager verlassen hatte, trafen die vier Freunde nach langer Zeit wieder zu einem gemeinsamen Essen zusammen.
Orin erhob sich von seinem Platz, nahm sein Glas in die Hand und sprach:
"Ich danke euch beiden. Ohne euch hätten wir es nicht geschafft. Obwohl ihr unsere Gäste seid, habt ihr so kräftig geholfen, als ginge es um die Tiere eures Tales. Laßt uns auf die Freundschaft trinken und auf das, was sie bewirken kann."
Auch Sinead und Sasana hoben ihre Gläser und Kandar schnaubte einmal kräftig. Dann tranken alle einen guten Schluck.
Als Orin und Sinead sich setzten, blieb die Elfe stehen.
"Und jetzt laßt uns noch einen Schluck auf die Hoffnung trinken," sagte sie. "Auf die Hoffnung, dass die Fallensteller diesen Wald künftig verschonen werden."
Sie hielt einen Moment inne, lächelte die beiden Zwerge an und fuhr fort:
"Und auf die Hoffnung, dass im nächsten Jahr die Triebe eines neuen Speierlings schießen werden."
Sinead fuhr zusammen. "Oh je, das habe ich ja ganz vergessen. Jetzt werden die Früchte nicht mehr zu gebrauchen sein. Oh je."
"Nun beruhige dich," sagte Sasana. "Es ist alles geregelt. Ich habe die Birnenäpfel an die kranken Vögel verfüttert."
"Was hast du getan?" fragte Orin ungläubig.
"Na ja," sagte Sasana, "Sinead hat mir von deiner Sorge um den Speierling erzählt. Da habe ich den verletzten Vögeln gesagt, dass sie viel schneller gesund werden, wenn sie die Früchte dieses Baumes essen würden. Und ihr hättet einmal sehen sollen, mit welchem Genuß sie dieses fade Zeug aßen."
Die Zwerge sahen sich entgeistert an, blickten wieder zu Sasana und fingen dann an, herzlich zu lachen.
Sasana und Kandar stimmten mit ein.
"Auf die Hoffnung!" rief Sasana. Und alle nahmen wieder einen kräftigen Schluck frischen, kühlen Wassers.
Der nächste Tag war der Tag des Abschieds. Sasana und Kandar traten ihre Heimreise an. Zuvor mussten sie allerdings noch das Versprechen geben, wieder einmal zu einem Besuch in das Zwergenrevier zu kommen.
Drei Tage später trafen sie im Tal am Fuße des Berges Porot ein, wo sie von ihren Freunden mit einer Wiedersehensfeier begrüßt wurden.
Als Sasana am Ende des Tages auf ihrem Lieblingssitz in der Silberlinde saß, nahm sie sich vor, ein wachsames Auge darauf zu haben, ob auch ihr Tal von Fallenstellern heimgesucht würde.



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