Die Reise zum Großen Fest
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
Die Reise zum Großen Fest
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


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Teil 1

Elfenzeichnung von Pia H. Der Sommer hatte mit strahlendem Sonnenschein auch in das Tal der Elfe Sasana am Fuße des Berges Porot Einzug gehalten. In jedem Jahr, wenn sich der Sommer seinem Höhepunkt näherte, fieberte Sasana dem Großen Fest der Elfen entgegen. Aus allen Winkeln der Welt reisten dann Elfen zu dem Festplatz mitten im Farbenwald. Fünf Tage wurde getanzt, erzählt, gelacht und gesungen. Es war ganz herrlich, so viele Freundinnen und Freunde wiederzusehen und mit ihnen eine fröhliche Zeit zu verbringen. Schon der frühe Morgen ließ erahnen, dass ein wunderschöner Sommertag heraufziehen würde. Ganz langsam erwachte das Leben im Tal. Nach und nach fanden sich viele Tiere bei der Silberlinde der Elfe ein. Sie alle wollten Sasana gute Wünsche mit auf die Reise geben.
Stolzbrust, der Leithirsch, näherte sich würdigen Schrittes und mit hochwichtigem Gesichtsausdruck. Wie in jedem Jahr würden er und Gorama, die Taube, die Wegbegleiter der Elfe sein. Sasana würde von Zeit zu Zeit eine Strecke auf seinem Rücken zurücklegen. Eigentlich mochte der Hirsch es nicht so sehr, wenn jemand auf ihm ritt. Doch die Elfe war federleicht. Und auf diese Weise hatte er Gelegenheit, dem bunten Treiben auf dem Festplatz beizuwohnen. Dieses Vergnügen war nicht vielen Tieren vergönnt. Nach der Reise würde er für viele Wochen Mittelpunkt so mancher Gesprächsrunde sein. Wieder und immer wieder würde er von den Begebenheiten beim Großen Fest berichten müssen. Schon der Gedanke daran füllte ihn mit Stolz und ließ seine Brust noch stärker schwellen.
"Wir werden jetzt aufbrechen", rief Sasana, als ihr die Versammlung um ihre Silberlinde herum zu groß wurde und sie durch das Stimmengewirr beim besten Willen nicht mehr unterscheiden konnte, wer was zu ihr sagte.
"Macht euch keine Sorgen, in einigen Tagen sind wir wohlbehalten wieder zurück. Und nun: Auf Wiedersehen!"
Vielstimmig ertönte die Antwort: "Auf Wiedersehen! Gute Reise! Viel Spaß! Kommt gut zurück!"
Und dann machte sich die kleine Reisegesellschaft wirklich auf den Weg.
Anfangs wurde sie von vielen ihrer Freunde noch begleitet. Bis kurz vor dem Pass auf dem Berge Porot warteten am Wegesrand auch immer wieder Tiere, die einen Gruß oder einen guten Wunsch mit auf den Weg geben wollten.
Darum befiel die drei ein seltsames Gefühl, als die Passhöhe überwunden war und der Abstieg auf der anderen Bergseite begann. Dies war schon die Fremde, durch die sie nun fünf oder sechs Tage reisen mußten, bevor sie den Festplatz erreichen würden. In ihrem Tal fühlten sie sich zu jeder Zeit geborgen. Dort lebten viele Freunde, die in jeder Lage bereit waren, zu helfen. Außerhalb des Tales konnte man nicht so sicher sein, dass diejenigen, denen man begegnete, auch freundlich gesonnen waren. Doch sie unternahmen diese Reise nicht zum ersten Male. Was sollte also schon passieren?

Der erste Tag ihrer Wanderung verging wie im Fluge. Sie erinnerten sich an viele Begebenheiten, die sich bei den Großen Festen der vergangenen Jahre ereignet hatten, sprachen darüber und malten sich aus, wie schön das Fest wohl in diesem Jahr sein würde. Manches Tier, an dem sie vorüber zogen, schüttelte verwundert den Kopf über das seltsame Bild, das sich ihm bot. Mal liefen Stolzbrust und Sasana nebeneinander her und wurden von Gorama umflattert. Mal saß die Elfe auf dem Rücken des Hirsches und die Taube zwischen den Geweihstangen auf dessen Kopf. Immer aber waren sie so sehr in ihr Gespräch vertieft, voller süßer Erinnerung oder freudiger Erwartung, dass sie kaum etwas um sich herum wahrnahmen.
Als die drei Reisenden gegen Abend den Teich erreichten, an dem sie - wie in jedem Jahr - die erste Nachtruhe einlegen wollten, wurde ihnen bewußt, welche Strecke schon hinter ihnen lag. Da sie wegen ihrer angeregten Gespräche kaum eine längere Pause eingelegt hatten, spürten sie nun die Anstrengungen des Tagesmarsches umso deutlicher in ihren Gliedern. Sie wurden von einer rechtschaffenen wohligen Müdigkeit ergriffen und beschlossen, sofort schlafen zu gehen.
Stolzbrust legte sich also unter einen Holunderstrauch und schloß schon die Augen, während Sasana sich noch Laub und Reisig zusammensuchte, mit dem sie sich unmittelbar neben dem Hirsch ein weiches Nachtlager bereitete. Dann kuschelte sie sich an ihren Begleiter und schlief auf der Stelle ein. Gorama hatte sich auf einen breiten Ast der nahe stehenden Buche zurückgezogen, um dort die Nacht zu verbringen. Und während die drei Freunde dem nächsten Morgen entgegen schliefen, träumten sie von all den Dingen, über die sie tagsüber miteinander geredet hatten. Im tiefen ungestörten Schlaf erholten sie sich von der Tageswanderung.

Zeichnung von Hanne H.

Als die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des neuen Tages ihre Nasen kitzelten, erwachten die drei Wanderer. Sie wünschten sich gegenseitig einen "Guten Morgen" und ein "Wohl geruht zu haben" und genossen noch ein Weilchen das angenehme Gefühl, das immer dann entsteht, wenn man nach erholsamem Schlaf noch etwas liegen bleiben und vor sich hin dösen kann.
Schließlich erhob sich Sasana und schöpfte etwas Wasser aus dem Teich. Sie wusch sich den Schlaf aus den Augen. Dann wandte sie sich an ihre Gefährten:
"Ich glaube, wir sollten den heutigen Tag etwas geruhsamer angehen lassen, als den gestrigen. Es treibt uns ja niemand zur Eile, und wir haben viel Zeit. Wir werden den Festplatz zeitig genug erreichen. Was meint ihr?"
Gorama hatte gerade ihre Flügel und den Hals gereckt und gestreckt, um die letzten Reste des Schlafes aus den Federn zu vertreiben. Sie gurrte belustigt und meinte dann:
"Also ich weiß nicht. Irgendwie erinnert mich dieser Vorschlag an all unsere vorherigen Reisen zum Großen Fest. Kann es sein, dass du jedes Mal dieselbe Rede hältst?"
Auch Stolzbrust schlug gutgelaunt und mit gespielt anklagendem Ton in die gleiche Kerbe:
"Warum fällt dir das mit dem ´geruhsamer angehen` nicht schon ein, wenn wir in unserem Tal aufbrechen? Warum immer erst nachdem wir uns die Füße schon fast wund gelaufen haben?"
Sasana ging auf dieses Spiel ein und entgegnete mit übertrieben beleidigtem Ton in der Stimme:
"Immer muß ich an alles denken. Immer ich. Warum kommt ihr nicht selbst einmal auf die Idee eine Rast einzulegen? Und außerdem habt ihr selbst Schuld. Wer hat denn immer dann, wenn ich daran dachte, eine Pause vorzuschlagen, wieder eine neue Geschichte zu erzählen begonnen und mich abgelenkt. Das seid ihr doch gewesen. Und mir macht ihr jetzt Vorwürfe. Das ist nicht fair. Das ist ganz und gar nicht fair. Mit euch rede ich nicht mehr. So - das habt ihr jetzt davon."
Bei den letzten Worten schob sie die Unterlippe vor, zog die Mundwinkel herab, verschränkte ihre Arme vor der Brust und ließ sich auf den Rasen plumpsen.
Doch sie fuhr sofort mit einem kurzen Schrei wieder in die Höhe. Sie hatte den faustgroßen Stein zwischen den Grashalmen völlig übersehen. Glücklicherweise hatte der Stein keine Spitzen oder scharfen Kanten. Es war also nicht so sehr ein Schmerz, der sie aufschreien ließ, sondern eher der Schreck darüber, so unvermutet einen harten Widerstand zu spüren, wo sie mit weichem Erdboden gerechnet hatte.
Die Taube und der Hirsch hatten wegen des Schreies ebenfalls einen gehörigen Schrecken bekommen. Doch als sie die Elfe nun mit verblüfftem Gesichtsausdruck dastehen und sich mit beiden Händen das Hinterteil reiben sahen, überkam sie ein starker Drang zu lachen. Weil sie aber bei ihrer Freundin nicht den Eindruck erwecken wollten, als lachten sie aus Schadenfreude, versuchten sie das Lachen zurückzuhalten. Hast du schon einmal einen Hirsch unter einem Holunderstrauch liegen sehen, der so verzweifelt versucht, nicht zu lachen, dass sein ganzer Körper in Wellen erbebt? Oder eine Taube, deren Hals sich immer wieder aufbläht, weil sie ein Lachen herunterschlucken will, das mit Macht aus ihr heraus drängt?
Sasana sah dies. Und weil sie sich dann auch noch bewußt wurde, welches Bild sie selbst den beiden anderen bieten mußte, konnte sie nicht anders. Sie lachte und lachte. Und damit brach auch bei Gorama und Stolzbrust der Damm. Minutenlang lachten die drei Freunde um die Wette. Immer wenn sie sich wieder zu beruhigen schienen, blickten sie sich an und wurden von einem neuen unwiderstehlichen Lachanfall geschüttelt, der ihnen die Tränen in die Augen trieb.
Sasana nahm all ihre Kraft zusammen und stammelte zwischen einigen Hi-Hi´s und Ha-Ha´s:
"Schluß ... Aufhören ... Ich kann nicht mehr."
Ganz langsam beruhigten sich die drei und atmeten tief durch. Gorama ergriff schließlich das Wort:
"Wie soll ein Tag enden, der schon so beginnt?"
"Das kann nur ein schöner Tag werden", antwortete Stolzbrust. "Laßt ihn uns genießen."
Und mit diesem Vorsatz machten sich die Reisenden wieder auf den Weg. Allerdings in gemütlicherem Schritt und mit mehr Pausen, als am Vortag. Auch nahmen sie sich mehr Zeit, auf die nähere und fernere Umgebung zu achten und darauf, was sich links und rechts vom Wegesrand tat. Dabei ergab sich manches Gespräch mit anderen Reisenden, die ihnen begegneten oder ihren Weg kreuzten. Und es kam auch vor, dass sie innehielten, um ein besonders schönes Fleckchen der Landschaft, die sie durchwanderten, etwas länger zu genießen.
So konnten sie sich nur sehr schwer von einem herrlichen Ausblick über eine Kette von sanft geschwungenen grünen Hügeln trennen. Ein anderes Mal verweilten sie in einem Laubwäldchen, um das verwirrende Licht- und Schattenspiel der Sonnenstrahlen und der sich im Wind wiegenden Baumkronen zu genießen. Nur wenig später konnten sie nicht genug davon bekommen, den würzigen Duft eines Nadelgehölzes in sich aufzusaugen.
Nachdem sie eine ziemlich breite Mooswiese überquert hatten, ließ Stolzbrust es sich nicht nehmen, noch einige zusätzliche Runden auf dieser Wiese zu drehen. Er behauptete, dass das Federn dieses wunderbar weichen Untergrundes seinen Füßen sehr gut bekomme. Mit seliger Miene lief er hin und her und legte auch den einen oder anderen Hüpfer ein, der einem afrikanischen Springbock alle Ehre gemacht hätte. Gorama sah ihm kopfschüttelnd zu.
"Was meinst du, Sasana, kommt es öfter vor, dass ein ausgewachsener Hirsch Spaß daran findet, Grashüpfer zu spielen?"
"Mooshüpfer, meine Liebe, Mooshüpfer wäre das richtige Wort", meinte Sasana. "Laß' ihm doch den Spaß. Und wenn sich seine Füße dabei so gut erholen, wie er behauptet, dann können wir ja anschließend wieder auf ihm reiten."
Es wurde also ein sehr kurzweiliger Tag, an dessen Ende sie den Fuß einer Gebirgskette erreichten, die sie in den nächsten zwei Tagen überwinden mußten. Ihr Nachtlager schlugen sie auf einer Wiese unterhalb eines Felsüberhanges auf, der sie während ihres Schlafes vor herabfallenden Steinen schützen würde.
Doch bevor sie sich zur Nachtruhe niederlegten, sprachen sie noch einmal über manchen Eindruck dieses Tages. Bis Stolzbrust sagte:
"Also ich kann es mir ja leisten, die ganze Nacht hindurch zu reden, denn immerhin habe ich euch heute getragen. Ihr solltet euch aber jetzt gut ausruhen, denn morgen ist es an euch, mich über diese Berge zu tragen."
"Nun fängt dieser Mooshüpfer auch noch an, uns im Schlaf seine Träume zu erzählen", wandte sich Gorama an Sasana. Diese antwortete: "Du darfst ihm jedoch deswegen keine Vorwürfe machen. Wahrscheinlich ist bei einem seiner Sprünge sein Gehirn zu stark erschüttert worden. Sei also nachsichtig mit ihm. Immerhin hat er in einem Recht. Die morgige Strecke wird wieder etwas anstrengender. Wir sollten uns daher tatsächlich langsam zur Ruhe begeben."
Und das taten die drei Freunde dann auch.

Zeichnung von Hanne H.

Am nächsten Morgen nahmen sie ausgeruht einen ersten kurzen Anstieg in Angriff und erreichten den Hohlweg, der zwischen zwei Berge hindurch tiefer in die Gebirgskette hinein führte. Nach einer Stunde knickte der Weg scharf nach links ab. Unmittelbar nach der Biegung öffnete sich für die Reisenden der Blick in ein langgestrecktes Tal. Es wurde zu beiden Seiten durch steil ansteigende Berghänge begrenzt, die in der Ferne spitz zuzulaufen schienen.
"Wenn ich nicht genau wüßte, dass es irgendwo vor uns noch einen anderen Weg aus diesem Tal heraus gibt, würde ich gleich wieder umkehren", meinte Stolzbrust. "Sehr einladend sieht es hier nicht gerade aus."
Und das stimmte. Weil das Tal nur wenige Baumlängen breit war, wirkten die Berghänge sehr bedrohlich. Dies lag auch daran, dass Wind und Regen an vielen Stellen den blanken Fels zutage gefördert hatten und kaum noch eine Pflanze genügend Boden fand, um ihre Wurzeln zu verankern.
"Ich mag dieses Tal auch nicht", stellte Sasana fest. "Es ist aber nun einmal der kürzeste Weg. Wollten wir diese Gebirgskette umgehen, wären wir vier Tage länger unterwegs."
"Hört auf zu lamentieren", ermahnte Gorama die beiden. "Je eher wir weiterziehen, desto schneller können wir diese beklemmende Öde wieder verlassen."
Stolzbrust dachte kurz über die Worte der Taube nach und wandte sich dann an Sasana:
"Steig auf, wir legen einen kleinen Zwischenspurt ein - dann kommen wir noch schneller voran."
"Du solltest dich für den schwierigen Aufstieg am anderen Ende schonen, er wird anstrengend genug", sagte die Elfe besorgt.
"Wenn wir die Strecke in einer Stunde statt in zwei schaffen, können wir vor der Kletterei noch eine halbe Stunde rasten, damit ich Luft schöpfen kann und haben dennoch etwas Zeit gewonnen", antwortete der Hirsch entschlossen.
Also geschah es, wie Stolzbrust vorgeschlagen hatte. Die Elfe nahm auf dem Rücken ihres Freundes Platz und hielt sich an den Geweihstangen fest. Das war auch bitter nötig, denn der Hirsch rannte, als gelte es sein Leben. Sasana wurde kräftig durchgeschüttelt und hatte Mühe, nicht den Halt zu verlieren. Die Taube zog es diesmal vor, auf einen Ritt zu verzichten und vertraute lieber den eigenen Flügeln. Aus luftiger Höhe beobachtete sie kopfschüttelnd den rasanten Lauf und dachte:
"Hoffentlich hält er das nicht lange durch, sonst braucht Sasana nachher viel länger als eine halbe Stunde, bevor sie ihre Beine wieder gebrauchen kann."
Und die Elfe fühlte sich bei diesem Höllentempo wirklich nicht sonderlich wohl.
"Geht es ..... nicht doch ..... etwas langsamer?" fragte sie, wobei ihr die Worte nur stoßweise über die Lippen kamen, weil sie sich zwischendurch immer wieder anstrengen mußte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. "Ich werde... hoppla... sonst noch ...... ganz seekrank."
Doch der Hirsch ließ sich nicht beirren. Es schien Sasana sogar, als liefe er noch schneller. Und weil Elfen federleicht sind, mußte sie sich immer wieder mit aller Kraft an das Geweih klammern, um nicht abzuheben.
Doch dann hatte sie  d i e  Idee. Warum sollte sie eigentlich nicht abheben? Solange sie sich nur festhielt, konnte ja nichts passieren.
Und so bekam Gorama einen Riesenschrecken, als sie sah, wie die Elfe vom Wind in die Höhe gehoben wurde. "Oh je," dachte die Taube. "Gleich wird sie durch die Luft gewirbelt und zu Boden stürzen."
Doch schon im nächsten Augenblick wich der Schreck einem maßlosen Staunen. Der Hirsch zog Sasana, die sich mit beiden Händen an seinen Stangen festhielt, wie eine im Wind flatternde Fahne hinter sich her. Und der Elfe schien diese Art zu reisen auch noch Vergnügen zu bereiten. Sie lachte und jauchzte, dass es nur eine Freude war.
Stolzbrust war ein kräftiger und ausdauernder Läufer. Er genoß es, seine Beine wieder einmal richtig gebrauchen zu können. Sonst mußte er auf dieser Reise ja immer Rücksicht auf Sasana nehmen, die ein solches Tempo nicht lange durchzuhalten vermochte.
Und so "flogen" die drei durch das Tal - vorbei an Geröllhalden, die durch Erdrutsche entstanden und hinweg über Steinbrocken, die einmal als Teil einer Lawine von den Hängen gestürzt waren. So schnell - und vor allem so genußvoll - hatten sie noch nie zuvor dieses Tal durchquert.
Als sie die Stelle vor sich erblickten, bei der über einen schmalen, gewundenen Pfad der Aufstieg zur Passhöhe begann, rief Stolzbrust:
"Nimm besser wieder Platz. Ich muß gleich langsamer werden und möchte nicht, dass du versuchst, mich durch meine Geweihstangen hindurch zu überholen."
"Schade", meinte Sasana enttäuscht. Doch sie tat, wie ihr der Hirsch geraten hatte. Dieser bremste nun seinen Lauf nach und nach ab, bis er wieder in gemütlichen Spazierschritt zurückfiel. Schließlich hielt er völlig an. "Zeit für die versprochene Rast", meinte er und versuchte, über seine Schulter hinweg die Elfe anzusehen. Diese rutschte von seinem Rücken auf den Boden hinunter und blieb einen Moment an seiner Seite stehen, um tief durchzuatmen. Dabei stützte sie sich mit beiden Händen an dem Hirsch ab, weil sie sich noch etwas unsicher auf den Beinen fühlte. Dann tat sie zwei Schritte vorwärts, nahm den Kopf ihres Freundes zwischen ihre Hände, sah ihm in die Augen und gab ihm einen langen Kuß auf die Nase.
"Das war so schön, dass ich gar nicht sagen kann, wie schön es war. Danke!"
Sie schlang ihre Arme um den Hals ihres Freundes und drückte ihn.
Inzwischen war Gorama, die dem Hirsch nur mit einiger Mühe hatte folgen können, ebenfalls eingetroffen. Sie landete auf einem dicken Felsbrocken, nur wenige Schritte entfernt. "Na, ihr zwei Verrückten - habt ihr alles heil überstanden?" fragte sie.
"Oh, es war toll - einfach toll", jubelte Sasana und drehte sich dabei - die Arme weit ausgebreitet - mehrfach um die eigene Achse, wobei sie ihren Kopf schräg auf die rechte Schulter legte. Es sah aus, als tanzte sie einen wilden Tanz. Schließlich lief sie wieder auf den Hirsch zu und umarmte ihn noch einmal. Dieser stand noch stolzer da als sonst. Er blickte verstohlen zu der Taube. Hoffentlich verfolgte sie auch alles ganz genau. Immerhin würde sie später zuhause bestätigen müssen, dass es sich tatsächlich so zugetragen hatte.

Zeichnung von Hanne H.

Nicht weit entfernt von der Stelle, an der die drei Freunde sich ausruhten, geschahen genau zu diesem Zeitpunkt sehr merkwürdige Dinge.
In einem Hohlweg, zu dessen beiden Seiten Felswände steil emporstiegen, schwebte eine eigenartige Gestalt in die Höhe.
Während dieses langsamen Aufstiegs prüften ihre Augen die rechte Wand sehr genau. Auf halber Höhe schienen sie das Gesuchte gefunden zu haben.
Die Gestalt stieg nun nicht weiter. Stattdessen ließ sie ihre Arme langsam kreisende Bewegungen vollführen. Dabei murmelte sie leise unverständliche Worte.
Nach einer Weile verstummte sie und verharrte einen Augenblick regungslos. Dann legte sie die beiden Handflächen mit hoch ausgestreckten Armen unmittelbar nebeneinander flach auf die Felswand.
Nun strich sie mit den flachen Händen, die Arme ausbreitend, nach rechts und links über den Fels, um sie anschließend auf Bauchhöhe wieder zusammen zu führen.
Erneut hielt sie kurz inne. Dann löste sie sich von dem Gestein, schwebte eine Armlänge zurück und betrachtete eingehend die zuvor von ihren Händen umrissene Fläche.
Sie schien sehr zufrieden und bewegte sich wieder auf den Fels zu. Dann streckte sie einen Arm in die Höhe, winkelte die Hand nach vorne ab und stach sie mit hoher Geschwindigkeit in den Fels hinein. Mühelos, als sei sie ein scharfes Messer, das durch weichen Käse gleitet, fuhr die Hand durch den Stein und folgte dabei genau der durch die vorherige Zeremonie festgelegten Umrandung.
Als sie fertig war, hatte sie einen Halbkreis in den Fels geschnitten. Nun schloß die Gestalt ihre Augen, legte die rechte Handfläche über Kreuz auf den linken Handrücken und murmelte erneut vor sich hin.
Als sie wieder verstummte, geschah einen kurzen Augenblick lang nichts. Dann klatschte die rechte laut auf die linke Hand. Zugleich öffneten sich die Augen wieder, und es schien, als fuhr aus ihnen ein kurzer Lichtstrahl auf die Felswand. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern bewegte die Gestalt ihre Hände auf die ausgeschnittene Felsplatte zu, drückte sie fest an diese heran und schwebte dann rückwärts.
Mit dieser Rückwärtsbewegung zog sie die Felsplatte aus dem massiven Gestein heraus, als handle es sich um eine Schreibtischschublade.
Mit zufriedenem Gesichtsausdruck betrachtete das Wesen seine steinerne Last, die keine zu sein schien.
Die Felswand war jedoch durchaus nicht zufrieden.
Die Entfernung der Platte von ihrem angestammten Platz wirkte etwa so, als würde man aus einem mühevoll errichteten Stapel von Dosen in einem Supermarkt ausgerechnet die für die Stabilität wichtigste Dose aus den unteren Reihen wegnehmen.
Es ertönte ein Grummeln und ein Grollen – und dann stürzte der obere Teil der Wand mit lautem Getöse ein. Dadurch geriet aber auch der Teil des Berges, der oberhalb dieser Felswand lag, in Bewegung und rutschte nach. Schließlich war der Hohlweg so aufgefüllt, dass er eben kein Weg mehr war, sondern ein unüberwindliches Gewirr von Felsbrocken und Geröll.
Der Verursacher dieses Aufruhrs war davon nicht sehr beeindruckt. Ja, er bemerkte nicht einmal, was er da angerichtete hatte, denn er hatte sich längst entfernt und die Felsplatte mit sich genommen.


Elfenrevier - Eine Zeichnung von Hanne H.

Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
Um das Bild vergrößert zu sehen, klicken Sie es einfach an.


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