Die Reise zum Großen Fest
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
Die Reise zum Großen Fest
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


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Teil 2

Elfenzeichnung von Pia H. Sasana sprach während der ganzen Rast nur von dem Spaß, den ihr die letzte Stunde bereitet hatte. Gorama meinte nur: "Fliegen ist nun einmal schön - das weiß doch jeder Vogel."
Nach einer geraumen Weile mahnte Stolzbrust:
"Wir sollten nun unseren Weg fortsetzen. Immerhin haben wir noch eine ziemliche Strecke vor uns."
"Bist du denn ausgeruht genug?" fragte Sasana. "Der Anstieg, der jetzt folgt, ist ganz schön anstrengend."
"Ich bin zwar keine Bergziege", entgegnete der Hirsch, "doch ich bin auch nicht fußkrank."
"Auf geht’s!" rief Gorama und schwang sich in die Höhe.
Für die Taube war dieser Aufstieg auch nicht sonderlich beschwerlich – sie konnte ja fliegen. Sasana und Stolzbrust hingegen taten sich schon schwerer. Langsam aber stetig führte der Pfad sie immer steiler bergan. Und weil der Hirsch eben keine Bergziege war, mußte er zwischendurch immer wieder verschnaufen. Doch auch der Elfe kamen diese kurzen Pausen gerade recht, um wieder zu Atem zu kommen. Gorama flog den beiden anderen jeweils ein kurzes Stück voran und wartete dann auf sie. Je länger der Aufstieg dauerte, umso öfter munterte die Taube ihre beiden Gefährten auf, wenn diese bei ihr eintrafen. Mal begrüßte sie die beiden mit den Worten: "Ihr habt schon ein gutes Stück geschafft." Ein anderes Mal sagte sie: "Jetzt habt ihr aber den schwierigsten Teil bald hinter euch." Anfangs bedankte sich die Elfe auf die eine oder andere Weise für derartige Ermutigung. Doch später fand sie nur noch die Kraft, mit dem Kopf zu nicken.
Stunde um Stunde verrann, und Sasana schien es, als kämen sie überhaupt nicht recht voran. Darum blickte sie erstaunt auf, als die Taube schließlich sagte: "Gleich sind wir am Pass, dann habt ihr es überstanden."
Und tatsächlich: ein kurzes Stück voran sah sie den Felsblock, hinter dem der Pfad scharf nach links abbog. Wenn dieser Fels erst umrundet war, würde es nicht mehr so steil bergauf gehen und bald der Pass erreicht sein. "Das wurde aber auch Zeit", keuchte Stolzbrust. Er stand mit vor Anstrengung zitternden Flanken da und rang nach Luft. Doch dann begann er auch schon wieder zu laufen. "Bringen wir es schnell hinter uns", jappste er.
Sasana seufzte kurz, folgte dann jedoch ihrem Freund.
Gorama schwang sich in die Luft, um voran zu fliegen. "Flügel machen sich doch immer wieder bezahlt", dachte sie bei sich. "Ich muß nicht den Umweg um den Fels herum nehmen, sondern kann ihn einfach überfliegen." Dies tat sie auch.
Und dann sah sie die Bescherung. Die Felswände, die für ein gutes Stück einen Hohlweg gebildet hatten, waren eingestürzt und versperrten den Durchgang. Gorama flog näher, um nachzusehen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, wie ihre beiden Freunde dieses Hindernis überwinden könnten.
In der Zwischenzeit mühten sich Sasana und Stolzbrust mit dem letzten Stück des Aufstiegs. Sie waren schon ziemlich erschöpft, als sie schließlich den Beginn des Hohlwegs erreichten.
"Oh je", stöhnte Sasana auf. Sie stand fassungslos vor den riesigen Felsplatten, die das Weitergehen verwehrten. Nach all der Anstrengung nun auch noch dies. Doch ihre Enttäuschung war noch nichts im Vergleich zu der, die Stolzbrust empfand. Die Kletterei hatte ihm noch mehr zugesetzt, als der Elfe. Schwer atmend knickte er ein und lag völlig erschöpft auf dem Boden. Sagen konnte er erst einmal nichts.
"Und was jetzt?" fragte die Elfe, die sich ebenfalls zu Boden sinken ließ. "Wie geht’s jetzt weiter?"
Weder Stolzbrust, noch Sasana wußten eine Antwort auf diese Fragen. Und so saßen sie schweigend und ausgelaugt auf dem Boden und blickten auf das steinerne Durcheinander vor ihnen.
Nach einer geraumen Weile stieß Gorama wieder zu ihnen. Sie hatte sehr gründlich nach einem Weg gesucht, brachte aber keine gute Nachricht.
"Also, da ist nichts zu machen", sagte sie. "Für euch gibt es hier kein Durchkommen." Eigentlich hatte sie genauer schildern wollen, dass die Felsplatten entweder zu steil oder zu glatt und ohne Halt waren und dass es sehr viele Stellen gab, die bei der leisesten Berührung weiter abzurutschen drohten. Als sie die Niedergeschlagenheit ihrer Freunde erkannte, verstummte sie aber. Sie beschloß, den beiden erst einmal Zeit zu geben, sich zu erholen. Es dauerte schon ziemlich lange, bis Sasana wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
"Gibt es überhaupt keine Möglichkeit weiterzukommen?" fragte sie die Taube.
Diese schüttelte betrübt den Kopf. "Nicht die kleinste", entgegnete sie. "Es hilft nichts, wir müssen wieder zurück."
"Oh nein", stöhnte der Hirsch auf. "Nicht nach all den Mühen."
Sasana versuchte ihn zu trösten. "Der Abstieg wird dir nicht so schwer fallen. Runter geht es immer leichter, als hinauf. – Ärgerlich ist nur, dass wir jetzt sehr viel Zeit verlieren und wohl ziemlich verspätet an unserem Ziel eintreffen werden."
"Müßen wir den ganzen Weg wieder zurück?" fragte der Hirsch.
"Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben", meinte die Taube. "Wir müßen heraus aus diesem Gebirge und es dann umwandern. Oder kennst du noch einen anderen Weg?" wandte sie sich an Sasana.
Diese schüttelte den Kopf. "Leider nicht", antwortete sie. "Das muß aber nicht heißen, dass es nicht doch einen gibt. Wir müßen ihn nur finden."

"Genau!" rief Gorama plötzlich aus. "Ich weiß, wie wir vorgehen." Die Elfe und der Hirsch blickten sie erstaunt an.
"Na, dann raus damit", forderte Sasana.
"Ihr beide ruht euch jetzt erst einmal aus. Wenn ihr dann soweit seid, beginnt ihr mit dem Abstieg. Ich werde in der Zwischenzeit erkunden, ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gibt. Vielleicht führt uns eines der Seitentäler zu einem anderen Pass."
Die Elfe dachte kurz nach und nickte dann. "Gut, so können wir es machen. Wenn wir ins Tal kommen und du noch nicht wieder zu uns gestoßen bist, werden wir auf dich warten."
"Ich hoffe nur, dass du Glück hast", sagte Stolzbrust.
Und so kam es, dass Gorama ihre beiden Freunde oben auf dem Berg zurückließ und sich auf die Suche nach einem geeigneten Weg machte. Die Elfe und der Hirsch blickten ihr nach, wie sie mit kräftigen Flügelschlägen losflog. Bald schon war sie kaum noch zu sehen.
"Wenn wir das Tal noch vor dem Dunkelwerden erreichen wollen, dürfen wir unsere Rast aber nicht zu lange ausdehnen", sagte Sasana. "Was meinst du?"
Stolzbrust seufzte, nickte dann aber mit dem Kopf. "Du hast natürlich recht", sagte er. "Aber etwas Zeit brauche ich noch. Es war schon ein ziemlich anstrengender Weg hierher."
Und weil Sasana einsah, dass sie ihrem Freund noch etwas Ruhe gönnen mußte, brachen die beiden erst nach einer Stunde auf.
Schon nach kurzer Zeit mußte Sasana sich eingestehen, dass der Weg hinunter auch nicht viel angenehmer war, als der hinauf. Sie kam zwar nicht so außer Atem, wie beim Aufstieg, doch in ihren Beinen spürte sie die Anstrengungen sehr deutlich. Stolzbrust ging es da nicht viel anders. Mancher Stelle, die er auf dem Hinweg zügig erklommen hatte, näherte er sich jetzt sehr langsam. Er durfte nicht zu schnell sein, weil dann die Gefahr bestand, ins Rutschen zu geraten und einen Fehltritt zu tun. Darum brauchten die beiden nicht sehr viel weniger Zeit, um das Tal wieder zu erreichen.
Als sie schließlich an dem Rastplatz ankamen, wo sie sich von dem Spurt durch das Tal erholt hatten, wurde es schon dunkel. Von Gorama war noch nichts zu sehen. Doch die beiden waren zu müde, um sich Sorgen zu machen. Sie legten sich nieder und schliefen sofort ein.

Zeichnung von Hanne H.

Auf der Passhöhe eines anderen Berges in dem Gebirge, in dem sich Sasana zur Nachtruhe legte, stand an diesem Abend jemand verwirrt vor einer großen Felsplatte, die wie ein Tisch am Wegesrand lag.
"Was wollte ich noch damit?" fragte er sich halblaut selbst. "Es muß doch einen Grund dafür geben, warum ich mir die Mühe mit einer so großen Platte gemacht habe. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte. Ich sollte eben meine Experimente nicht allein durchführen."
Er legte einen Finger an seine Nase und dachte angestrengt nach. Doch so sehr er sich auch um die Erinnerung bemühte, sie wollte sich nicht einstellen. Seufzend gab er auf und sah sich unschlüssig um. Erst dabei fiel ihm auf, dass die Sonne schon kaum noch zu sehen war und sich die Dunkelheit mehr und mehr ausbreitete.
"Na, dann hat es keinen Sinn mehr, es heute noch herausfinden zu wollen", murmelte er vor sich hin. "Morgen ist auch noch ein Tag. Hoffentlich vergesse ich es bis dahin nicht."
Mit diesen an sich selbst gerichteten Worten drehte er sich um und entfernte sich, die Felsplatte, so wie sie war, am Wegesrand zurücklassend.

Zeichnung von Hanne H.

Die Sonne stand schon einige Zeit am Himmel, als Sasana am nächsten Morgen erwachte. Sie rieb sich die Augen, gähnte und reckte sich. Stolzbrust war schon dabei, auf einer Wiese zu frühstücken.
"Guten Morgen", rief Sasana ihm zu. "Hast du schon etwas von Gorama gesehen oder gehört?"
Doch der Hirsch machte keine Anstalten, ihr zu antworten. Er äste ruhig weiter. Stattdessen erklang hinter Sasana eine Stimme:
"Gut, dass nicht jeder so ein Langschläfer ist, wie du."
Die Elfe fuhr vor Schreck zusammen und drehte sich blitzschnell um. Gorama saß gar nicht weit entfernt und sah sie belustigt an. "Ich bin schon ein Weilchen hier und habe deinem Schnarchen gelauscht."
Sasana war sehr erleichtert. Nicht nur, weil die Stimme, die sie so erschreckt hatte, zu ihrer Freundin Gorama gehörte, sondern auch weil die Taube wieder bei ihnen war. "Ich schnarche überhaupt nicht", protestierte die Elfe.
"Ha", mischte Stolzbrust sich ein. "Und was war das dann, was mich die ganze Nacht kein Auge hat zutun lassen?"
Jetzt aber wechselte Gorama die Seiten: "Erzähle keine Märchen. Als ich hier eintraf, hast du tief und fest geschlummert und die zweite Stimme im Konzert geschnarcht."
So neckten sich die drei noch etwas. Das war halt ihre Art, ihre Erleichterung auszudrücken. Schließlich fragte Sasana: "Wie sieht es aus? Hast du einen Weg gefunden?"
Die Taube nickte mit dem Kopf. Doch sehr begeistert schien sie nicht zu sein. "Nur ein kurzes Stück das Tal hinunter führt ein Pfad in ein Seitental, aus dem ein noch schmalerer Pfad zwischen zwei Berge hindurch zu einem Pass führt. Wenn ihr den überwunden habt, folgt ein recht steiler Abstieg. Dann müßen wir uns nach rechts halten und noch einen weiteren Berg überqueren. Doch danach ist es geschafft."
"Warum schaust du denn so griesgrämig?" fragte Stolzbrust. "Das hört sich doch gut an."
"So einfach, wie es sich anhört, wird es eben wohl nicht werden", erwiderte Gorama. "Der Pfad ist schon sehr schmal und steil. Er ist noch sehr viel steiniger, als alle Wege, die ihr bisher gegangen seid. Und du, stolzer Hirsch, wirst nur sehr wenig zu fressen finden. Entlang der ganzen Strecke steht kein Baum und kein Strauch und auch nach einem Fleckchen Gras wirst du vergeblich Ausschau halten. Du solltest also lieber noch einige Maulvoll auf Vorrat fressen."
"Meinst du, wir könnten es heute noch schaffen, aus dem Gebirge herauszukommen?" fragte Sasana.
"Schwer zu sagen", meinte die Taube. "Es hängt davon ab, wie ihr mit dem Weg zurechtkommt."
Sasana blickte einen Augenblick nachdenklich zu Boden, hob dann den Kopf und sagte entschlossen: "Na, dann brechen wir wohl besser auf."
Und schon zogen die drei unter der Führung der Taube los. Zunächst ging es ein Stück den Weg zurück, den sie tags zuvor gekommen waren. Dann strebte Gorama nach rechts auf einen Berg zu, der nicht den Eindruck erweckte, als führe ein Weg zu seiner Spitze hinauf.
"Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?" fragte Stolzbrust. "Wenn man denn überhaupt von einem Weg reden will."
"Keine Sorge", erwiderte die Taube. "Du wirst schon sehen. Hab noch etwas Geduld und mach die Augen auf."
Doch so sehr der Hirsch seine Augen auch anstrengte. Er konnte beim besten Willen nicht erkennen, wie dieser Berg erklommen werden sollte. Erst, als sie nur noch wenige Schritte von dem Felssockel trennten, der aus der Ferne uneinnehmbar erschienen war, entdeckte er, dass hinter einem großen Block eine Art Rampe begann, die in einen schmalen Spalt führte, der sich durch die Felswand zog.
"Seltsam", meinte Sasana. "Es sieht nicht so aus, als sei dies natürlich entstanden. Doch wer macht sich schon die Mühe, den Zugang zu einem Tal so gut zu verstecken? Und noch viel spannender ist die Frage, warum sich jemand diese Mühe machen sollte. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, diesen Weg zu nehmen. Irgendjemand möchte keinen Besuch erhalten. Wer weiß, wie er reagiert, wenn wir trotzdem ungebeten auftauchen."
"Mir ist auch nicht ganz wohl dabei", sagte Stolzbrust. "Doch haben wir eine Wahl? Nehmen wir diesen Weg, haben wir nur einen Tag verloren. Ansonsten sind wir vier Tage länger unterwegs und kommen mit Sicherheit zu spät zum Fest."
"Macht euch keine Sorgen", versuchte Gorama die beiden zu beruhigen. "Ich fliege ja immer ein Stück voraus, um zu erkunden, ob es Schwierigkeiten geben könnte. Was soll also schon passieren?"
So machten sie sich auf den Weg, die Rampe hinauf und hinein in den Spalt. Nach zwanzig Schritten traten sie wieder ins Freie und sahen nun das Seitental, von dem Gorama vorher gesprochen hatte. Es zog sich zwischen zwei hohen Bergen hindurch auf einen noch höheren dritten Berg zu. Nicht ein kleines Stückchen Grün war zu sehen – nur Steine und Felsen, wohin man auch blickte.
"Und wo ist dieser Pfad, von dem du erzählst hast?" fragte Stolzbrust die Taube.
"Ihr müßt ein Stück hier rechts den Hang entlang über Geröll hinweg. Dann werdet ihr auf den Pfad stoßen."
"Na herrlich", meinte der Hirsch. "Die Beine werde ich mir brechen."
"Wir müßen eben vorsichtig sein", sagte Sasana. "Flieg voran Gorama. Aber nicht zu schnell."
So geschah es dann. Mit zögernden Schritten setzten sich Sasana und der Hirsch in Bewegung. Es war auch gar nicht leicht, auf den losen Steinen, die immer wieder wegrutschten, das Gleichgewicht zu bewahren. Doch mit etwas Glück bewältigten sie diese schwierige Strecke und erreichten nach einer halben Stunde wohlbehalten den Pfad. Er zog sich, die ganze Länge des Berghanges nutzend, einige hundert Schritte stetig nach oben. Dann knickte er ab und stieg in der Gegenrichtung wieder an. Wahrscheinlich bis zur nächsten Kehre.
Gorama flog jeweils bis zu den Kehren voraus, wartete dort und beobachtete in der Zwischenzeit aufmerksam die Umgebung, um rechtzeitig vor einer möglichen Gefahr warnen zu können. Doch sie konnte auch nicht das geringste Zeichen für irgendeine Gefahr erkennen.
Nach zwei Stunden wurde der Pfad noch schmaler. Zu seiner Rechten stieg der Berg steil an und zu seiner Linken ging es nicht minder steil hinunter ins Tal.
Es war so, wie es die Taube gesagt hatte. Dieser Weg war sehr viel schwieriger zu beschreiten, als alle bisherigen. Bei jedem Schritt mußten sie sehr sorgfältig aufpassen, wohin sie ihre Füße setzten, um nicht ins Rutschen zu geraten und abzustürzen. Daher ließen sie es noch langsamer angehen, als sonst.
Nach einer weiteren Stunde stieß der Hang, den sie bis dahin entlang gewandert waren, auf die Ausläufer des höchsten Berges, den sie bei ihrem Eintritt in das Tal gesehen hatten. Nun führte sie der Pfad diesen Berg hinauf.
"Gut, dass es nicht mehr an diesen schrecklichen Abgründen vorbeigeht", meinte Stolzbrust erleichtert.
Sasana stimmte ihm zu. "Auch mir wurden die Beine manchmal ganz schön weich, als ich in die Tiefe hinuntersah. Laßt uns etwas ausruhen."
"Gute Idee", meinte die Taube. "Ihr werdet eure Kraft jetzt brauchen, denn das nächste Stück wird wieder um einiges steiler."

Der Weg der drei Gefährten führte zwar nicht mehr an Abgründen vorbei, dafür aber sehr viel direkter in die Höhe. Der Hirsch folgte dem Verlauf des Pfades mit den Augen und atmete tief ein.
"Nun werde ich wohl doch noch zur Bergziege. Heiliger Strohsack, wie soll ich das denn schaffen?"
"Wir werden es schon hinbekommen", versuchte Sasana ihn zu ermutigen, "in aller Ruhe und mit vielen Pausen."
Nach kurzer Rast machten sie sich wieder auf den Weg. Es wurde so schwer, wie sie befürchtet hatten. Wie immer, flog Gorama ein Stück voraus und wartete dann auf die beiden anderen. Diese mühten sich redlich ab, brauchten aber immer länger, um die Taube jeweils zu erreichen. Darum wählte Gorama nach und nach kürzere Entfernungen, nach denen sie wartete. So wollte sie der Elfe und dem Hirsch das Gefühl geben, es gehe trotz des heiklen Weges schnell voran. Das klappte eine Weile recht gut. Bis Stolzbrust schließlich zu Sasana sagte:
"Kommt es mir nur so vor oder werden die Strecken, die Gorama uns vorgibt, immer kürzer? Wahrscheinlich werden wir sie demnächst schon nach zwei Schritten wieder eingeholt haben."
Die Elfe lachte. "Sie meint es doch nur gut."
"Natürlich", sagte der Hirsch, "doch wenn wir alle zehn Schritte Pause machen, kommen wir nie oben an."
Als sie diesmal zu der Stelle kamen, an der die Taube wartete, sagte Sasana:
"Es ist wirklich nicht nötig, dass du uns so schonen willst. Stecke unsere Etappen ruhig etwas länger ab. Ganz so viele Pausen brauchen wir doch nicht."
"Wenn du meinst", erwiderte die Taube knapp, schwang sich sofort in die Höhe und flog voran.
"Himmel, ist die aber empfindlich," meinte Stolzbrust. "Jetzt ist sie eingeschnappt."
"Sie beruhigt sich auch wieder", entgegnete Sasana. "Gehen wir weiter?"
"Wenn’s denn sein muß", brummte der Hirsch.
Gorama war tatsächlich etwas beleidigt. Statt Dank für die gezeigte Rücksicht zu erhalten, wurde sie nur angemeckert. "Na, ihr werdet schon sehen," dachte sie empört bei sich. "Wenn ihr es so wollt, dann sollt ihr es so haben."
Und sie flog so weit voran, dass die beiden sie nicht mehr sehen konnten. Erst dann ließ sie sich im Schatten eines großen Felsblocks auf dem Boden nieder. Diesmal würde es schon ein Stündchen dauern, bis ihre Freunde eintrafen. "Zeit für ein Nickerchen", dachte Gorama. Also legte sie sich auf den Bauch und steckte den Kopf unter ihren linken Flügel.
Als sie wieder erwachte, erkannte Gorama am Stand der Sonne, dass sie nur etwas weniger als eine Stunde geschlafen hatte. Sie blickte bergab, um zu erkunden, wo die beiden Fußwanderer waren. Doch sie konnte sie nicht entdecken.
"Seltsam", dachte sie. "Ich müßte sie doch längst sehen können. - Oder sind sie schon an mir vorbei und haben mich nicht geweckt?" Sie wandte ihren Kopf bergan. Doch auch voraus war nichts von ihren Freunden zu sehen. Nun prüfte die Taube mit aufmerksamem Blick den Pfad vor sich. Nein, ein Hirsch war hier noch nicht vorbeigekommen. Sonst müßte sie doch seine Fußspuren sehen. Dann kam ihr der Gedanke, dass die beiden wohl doch schon vorher eine Pause eingelegt hatten. "Ich hab’s doch gewußt. Aber auf mich wollten sie ja nicht hören. Ich kenne sie eben doch beßer, als sie glauben."
Befriedigt machte sie es sich wieder bequem. Während sie im Sonnenschein weiter wartete, überlegte sie, mit welchen Worten sie die Ungläubigen begrüßen wollte. Ungeschoren sollten sie jedenfalls nicht davon kommen: "Hallo, Herr und Frau Schnecke. Sind sie auch schon da?" Oder: "Na, war euch das lang genug?" Vielleicht wäre es aber noch besser, die beiden einfach vorwurfsvoll anzusehen und abzuwarten, bis sie von sich aus ihren Fehler eingestehen würden.
Wo blieben sie nur? Immer wieder sah Gorama den Pfad hinunter. Doch so oft sie auch Ausschau hielt, sie konnte nichts und niemanden entdecken.
Ihre Wut über die beiden war nun völlig verraucht, und sie machte sich Vorwürfe, ihre Freunde so lange allein gelassen zu haben. Hoffentlich war nichts passiert.
Gerade als sie sich entschloß die Suche aufzunehmen, bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung - auf gleicher Höhe etwa 150 Schritte links von sich. Was war das? Alarmiert reckte sie den Kopf und versuchte zu sehen, was dort vor sich ging. Und dann erkannte sie, dass Sasana und Stolzbrust sich dort den Berg hinauf mühten. Die beiden mußten irgendwo vom Weg abgekommen sein und stapften nun in die Irre. Gorama stieg in die Luft und flog zu ihren Freunden hinüber.
"Da seid ihr ja", rief sie schon, als sie noch einige Flügelschläge entfernt war. "Ich habe mir schon Sorgen darüber gemacht, ob euch etwas zugestoßen ist."
"Sieh mal einer an", meinte Stolzbrust. "Da ist ja unsere beleidigte Taube endlich. Zeit für eine Pause." Mit diesen Worten ließ er sich auf den Bauch nieder.
"Diesmal hast du uns ja ganz schön lange kraxeln lassen", sagte Sasana zu Gorama.
"Ja, ich weiß. Und es tut mir auch leid. Besonders deshalb, weil ihr ohne mich eben nicht zurechtkommt."
Der Hirsch lachte: "Hör dir das an. Jetzt wird sie endgültig größenwahnsinnig."
"Na, wenn du das meinst, dann sag mir doch mal, wohin ihr wollt," antwortete Gorama. "Auf diesem Weg kommt ihr jedenfalls nicht zum Pass. Dazu müßtet ihr euch viel weiter links halten."
Verblüfft und ungläubig sahen sich ihre Gefährten an.
"Oh nein", stieß Stolzbrust hervor. "Das kann doch nicht wahr sein. Müßen wir etwa wieder zurück und neu aufsteigen?"
Die Elfe blickte die Taube fragend an.
Diese ließ die beiden anderen etwas zappeln. Dann jedoch schüttelte sie mit dem Kopf. "Nein, das wird wohl nicht nötig sein. Ihr habt noch einmal Glück gehabt. Nur noch einige Schritte höher gibt es eine Möglichkeit, quer zum Hang zu dem richtigen Pfad zu gelangen."
"Du bist ein Schatz", sagte Sasana erleichtert.
"Was täten wir nur ohne dich", stimmte Stolzbrust der Elfe bei.
"Dass ihr es nur einseht", gurrte die Taube. "Hoffentlich vergeßt ihr es nicht wieder."
Die Reisenden rasteten eine gehörige Weile, bevor sie sich unter der Führung der Taube daran machten, den richtigen Pfad zu erreichen.

Zeichnung von Hanne H.

Etwa zu dieser Zeit näherte sich ein Habicht im Flug einem steinernen Turm, auf dessen Zinnen ein Falke von seinem hohen Aussichtspunkt die Umgebung beobachtete. Der Habicht landete in unmittelbarer Nähe und sprach den Falken an.
"Warum bist du gestern nicht gekommen? Ich habe mir ziemliche Sorgen gemacht."
Der Falke trat von einem Fuß auf den anderen und schaute etwas verlegen drein.
"Bist du sicher, dass ich zu dir kommen wollte?" fragte er unsicher.
"Du hast es also wieder vergessen," stellte der Habicht fest. "Es wird immer schlimmer mit dir. Wir müßen unbedingt versuchen, dagegen etwas zu tun, sonst vergißt du noch eines Tages, wer du bist."
"Glaubst du wirklich, dass mir das passieren kann?" fragte der Falke erschrocken.
"Nein, das glaube ich nicht," versuchte der Habicht zu beruhigen. "Trotzdem müßen wir ein Mittel gegen deine Vergeßlichkeit finden, sonst stellst du noch schlimme Dinge an. Was hast du denn gestern getrieben? Muß ich wieder irgendetwas in Ordnung bringen?"
Die Verlegenheit des Falken nahm nun noch zu, und er brachte nur ein Stottern und Stammeln hervor.
"Du weißt es also schon nicht mehr," seufzte der Habicht. "Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob wir wenigstens das wieder hinbekommen. Folge mir."
Und mit diesen Worten schwang sich der Habicht wieder in die Luft. Der Falke folgte ihm gehorsam. Die beiden Vögel drehten eine Runde um den Turm und verschwanden dann in einer der Fensteröffnungen.


Elfenrevier - Eine Zeichnung von Hanne H.

Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
Um das Bild vergrößert zu sehen, klicken Sie es einfach an.

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