Die Reise zum Großen Fest
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
Die Reise zum Großen Fest
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


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Teil 3

Elfenzeichnung von Pia H. Unsere drei Freunde hatten mittlerweile wieder zu dem richtigen Pfad zurück gefunden. Dort angelangt, sagte Sasana zu Gorama:
"Damit wir nicht noch einmal vom Weg abkommen, solltest du wieder ganz nach deinem Belieben die Abstände zwischen den Pausen festlegen."
"Keine Sorge, ich lasse euch nicht mehr aus den Augen", erwiderte die Taube. "Sonst kommen wir nie aus diesem Gebirge heraus."
Gorama wählte jetzt für ihre Vorausflüge immer nur Entfernungen, die die beiden anderen in Sichtweite ließen.
Die Sonne stand hoch am Himmel und erhitzte Luft und Steine so, dass es der Elfe und dem Hirschen immer schwerer fiel, den Berg hinauf zu steigen. Besonders Stolzbrust machte die Hitze ziemlich zu schaffen. So kam es, dass er nach und nach mit der Elfe nicht mehr mithalten konnte. Schritt für Schritt kämpfte er sich den Berg hinauf. Und jedesmal traf er um einiges später bei den Haltepunkten ein, als Sasana.
"Vielleicht sollten wir einmal eine längere Pause einlegen", meinte Sasana besorgt.
Doch Stolzbrust widersprach: "Das kommt nicht in Frage. Wir müßen noch vor dem Dunkelwerden die Spitze des Berges erreichen. Laßt uns also keine Zeit verschwenden."
Und weil er trotz gutem Zureden der anderen beharrlich dabei blieb, fügten sich alle.
So kam es, dass Stolzbrust zumeist ein gutes Stück hinter den anderen zurück war. Immer wieder warf er den Blick voraus, um die bis zur nächsten kurzen Rast noch vor ihm liegende Strecke zu erkunden. Wenn er dabei feststellte, dass Gorama und Sasana schon ein Plätzchen im Schatten gefunden hatten und auf ihn warteten, kam es vor, dass er sich selbst einen Narren schalt.
"Warum bist du auch so stolz. Laß dich doch zu einer längeren Pause überreden. Was vergibst du dir schon dabei?"
Doch wenn er dann die anderen erreichte und diese ihn fragten, ob er denn noch klettern könne, siegte doch sein Stolz. Auch wenn er vor Atemnot kaum reden konnte, wollte er doch nicht eingestehen, dass es vorerst nicht mehr weiterginge.
Er änderte seine Meinung erst, als ihm etwas sehr Seltsames zustieß.
Wieder einmal suchte er mit seinem Blick das nächste Zwischenziel, als plötzlich vor seinen Augen die Luft zu flimmern begann.
Du hast dies an besonders heißen Sonnentagen sicherlich auch schon einmal gesehen. Es ist, als ob die Luft zu Wasser wird.
Doch das war es nicht, was Stolzbrust beunruhigte. Immerhin hatte er so etwas schon öfter beobachten können. Diesmal war es jedoch anders. Ihm war, als tauchten in dieser flüssigen Luft Gegenstände und Bilder auf, die er bisher noch nie gesehen hatte. Daher kannte er auch keine Namen für sie. Erschreckt und doch fasziniert blieb er stehen und folgte dem Spiel der wechselnden Bilder.
Dann bewegte sich das Flimmern von der Stelle weg, an der er es zuerst bemerkt hatte. Es schwebte zu einem großen Stein, der am Rand des Pfades lag und umhüllte ihn völlig. Nun entstanden keine neuen Bilder mehr. Dafür nahm der Stein in der sich stetig bewegenden Luft eine intensive dunkelviolette Farbe an.
Dann schien das Flimmern den Stein zu schleifen. Er verlor seine massive gerundete Form und sah jetzt aus, als sei er aus vielen kleinen Steinen mit glatten Flächen zusammengesetzt. Seine Farbe wechselte in ein wesentlich helleres Violett. An manchen Stellen war er auch hellrot oder veilchenblau.
Stolzbrust kniff kurz die Augen zu und schüttelte heftig den Kopf.
Der Hirsch öffnete die Augen wieder und sah erneut zu dem Stein hinüber. Dessen Farbe war mittlerweile in Rosa übergegangen. Das Flimmern hatte auch wieder eine neue Form heraus geschliffen - oval, wie ein übergroßes Hühnerei. Alle Ecken waren verschwunden. Während sich die Luft ganz langsam wieder beruhigte und das Flimmern verschwand, verfärbte sich der Stein erneut. Er leuchtet nun in einem bläulichen, beinahe milchigen Weiß.
Stolzbrust schritt wieder aus, wandte jedoch den Blick nicht von dem Stein. Als er ihn erreichte, beäugte er ihn sehr mißtrauisch. Der Stein schien fast durchsichtig zu sein. In seinem Innern waren an verschiedenen Stellen dunklere Streifen eingeschlossen.
Der Hirsch schob seinen Kopf näher heran, um sich diese Einschlüsse genauer anzusehen. Je länger er hinein sah, desto ruhiger wurde er. Er fühlte sich beinahe völlig ausgeglichen. Und dann glaubte er, in der Mitte des Steines einen herrlichen Regenbogen zu sehen. Er konnte seine Augen kaum abwenden, so schön strahlten die Farben durch das milchige Blau.
Erst als er Sasana rufen hörte, hob er den Kopf.
"Was machst du denn da? Kannst du nicht mehr weiter?"
"Kommt her und seht euch das an", rief er zurück. "So etwas habt ihr noch nicht gesehen."
Sasana und Gorama zögerten noch. "Na, nun kommt schon", drängte der Hirsch. "Es lohnt sich."
Er blickte den beiden Freunden entgegen, die nun doch wieder zurück kamen.
"Was ist denn nun so sensationell?" fragte Sasana, als sie bei Stolzbrust eintraf.
"Sieh her und staune", sagte dieser und senkte seinen Kopf wieder zu dem Stein hinab.
Doch welch ein Erstaunen. Dort lag nur ein ganz gewöhnlicher Stein, genau der Stein, der vor dem seltsamen Flimmern dort gelegen hatte. Die Elfe schüttelte den Kopf. "Ein Stein - na und?" Sie sah den Hirsch fragend an. Diesem war die Verblüffung sehr deutlich anzusehen.
"Das gibt’s doch nicht. Wo ist es hin?"
"Was denn?" wollte Sasana wissen.
"Dieser Stein war noch vor wenigen Augenblicken beinahe durchsichtig und in seinem Innern strahlte ein Regenbogen. Außerdem war er von diesem Flimmern ganz rund geschliffen."
"Flimmern? Was für ein Flimmern?" Gorama hatte eine Vermutung. "Jetzt wird es aber höchste Zeit für eine längere Pause. Eine solche Anstrengung in der Hitze kann ja nicht gesund sein. Laßt uns rasten, damit nicht einem von uns noch schlimmeres passiert, als Flimmern vor den Augen."
"Ich schwöre euch, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Es war wirklich da."
"Ja natürlich", sagte Sasana. "So etwas kommt vor, wenn man so erschöpft ist, wie wir."
Doch der Hirsch wollte das nicht gelten lassen. Wieder und immer wieder beteuerte er, dass es ihm sehr gut gehe. Doch nun ließen sich die beiden anderen nicht mehr auf Diskussionen ein. Sie bestanden auf einer längeren Pause.
Gar nicht weit entfernt fanden sie ein Plätzchen im Schatten. Dort machten sie es sich so gut es ging bequem.
Stolzbrust berichtete nun ausführlich von dem, was er gesehen hatte. Da die anderen jedoch alles, was er sagte, nicht so recht glauben wollten, verstummte er schließlich. So saßen die drei schweigend nebeneinander und ruhten sich aus.
Schließlich fragte Sasana die Taube, wie weit sie noch von dem Pass entfernt seien.
"Wenn alles gut geht, werden wir ihn in etwa zwei Stunden erreichen."
"Dort oben sollten wir dann unser Nachtlager aufschlagen, damit wir den Abstieg mit frischen Kräften beginnen können."
"Davon würde ich allerdings dringend abraten", sagte die Taube. "Ich habe es euch noch nicht gesagt, um euch nicht zu beunruhigen. Da oben wohnt jemand, und wenn mich nicht alles täuscht, dann ist es derselbe, der den Eingang zu diesem Tal so gut zu verstecken versuchte. Er wird also sicherlich etwas gegen Gesellschaft haben."
"Wie kommst du darauf, dass jemand am Pass wohnt?" fragte Sasana erstaunt.
"Bei meinem Erkundungsflug fiel mir eine große Hütte auf, die einige Schritte neben dem Passweg errichtet wurde. Eine so große Hütte habe ich noch nie zuvor gesehen. Und es stieg Rauch aus ihr auf. Also muß jemand darin ein Feuerchen gemacht haben."
"Vielleicht hast du dir das aber auch nur eingebildet", warf Stolzbrust ein. "Wahrscheinlich ist dir bei deinem Flug ganz einfach zu heiß geworden."
"Ich weiß sehr genau, was ich gesehen habe", widersprach die Taube.
"Ach ja?" fragte der Hirsch. "Aber andere Leute wissen das wohl nicht?" Stolzbrust hatte es noch immer nicht überwunden, dass die anderen ihm nicht geglaubt hatten.
"Na, wenn wir doch noch weiter als nur bis zum Pass wollen, dann sollten wir nicht so lange faul herum liegen", sagte der Hirsch und erhob sich. Ohne auf die anderen zu warten, setzte er sich in Bewegung.
"Wird er uns noch lange nachtragen, dass wir uns Sorgen um ihn gemacht haben?" fragte Gorama.
"Wahrscheinlich nur so lange, wie du uns nicht verzeihen konntest, dass wir mit den von dir gesetzten Etappenzielen nicht einverstanden waren", entgegnete Sasana.
"Oh je, dann dauert es ja noch ganz schön lange", meinte die Taube und lachte.
Die Elfe schaute nachdenklich zur Bergspitze hoch. "Teile uns die Strecken so ein, dass wir nicht unmittelbar bei der Hütte eine Pause einlegen müßen. Wer auch immer dort oben wohnt, hat sich sehr viel Mühe gemacht, Besucher von seinem Wohnort fernzuhalten. Wir sollten uns daher nur solange in seiner Nähe aufhalten, wie es unbedingt notwendig ist."
Die Taube nickte verstehend. "Keine Sorge, ich mache das schon."
"Und jetzt sollten wir unserem verärgerten Freund folgen", meinte Sasana.
"Den hast du schon bald wieder überholt", lachte Gorama. "Er vergeudet seinen Atem, weil er unbedingt vor sich hin brabbeln muß."
Sie schwang sich in die Luft und flog los, um das nächste Teilziel aufzusuchen.

Zeichnung von Hanne H.

Der Hirsch redete die ganze Zeit mit sich selbst, während er um jeden Meter kämpfte.
"Wofür halten die mich? Das bißchen Sonne kann mir doch nichts anhaben. Wie kommen sie dazu zu glauben, ich hätte den Verstand verloren? Was ich gesehen habe, habe ich gesehen."
So schimpfte er noch vor sich hin, als Gorama schon den Platz für die nächste Pause gefunden hatte. Und so schimpfte er noch, als er die Taube schließlich erreichte. Und da erst fiel ihm auf, dass Sasana ihn nicht überholt hatte, obwohl sie doch sonst sehr viel schneller den Berg erklommen hatte, als er. Verblüfft sah er sich nach ihr um. Nichts. Nur Steine und Geröll lagen hinter ihm. Von der Elfe keine Spur.
"Nanu", sagte Gorama. "Wo ist sie denn geblieben?"
"Keine Ahnung", sagte Stolzbrust, dessen Ärger verschwunden war. "Sie müßte doch längst hier sein."
"Ob sie wieder irgendwo einen falschen Weg genommen hat?" fragte die Taube.
"Das glaube ich nicht", antwortete der Hirsch. "Auf dieser Strecke gab es keine Möglichkeit, sich zu verirren. Nirgendwo führte rechts oder links ein zweiter Pfad ab."
"Ich fliege wohl besser und sehe nach, was sie treibt." Gorama ließ diesen Worten sofort Taten folgen und stieg in die Höhe. Mit schnellen Flügelschlägen eilte sie bergab, immer nach Sasana Ausschau haltend. Entdecken konnte sie sie jedoch nicht. Schließlich erreichte sie die Stelle, an der sie zuletzt gerastet hatten. Doch auch dort war nichts von der Elfe zu sehen. Nun war die Taube doch sehr beunruhigt. In der Hoffnung, irgend etwas am Wegesrand übersehen zu haben, flog sie wieder bergauf den Pfad entlang. Doch auch jetzt bemerkte sie nichts Ungewöhnliches. Stolzbrust kam ihr schon entgegen. Er hatte es nicht ausgehalten, nur zu warten und sonst nichts zu tun.
"Hast du sie gefunden?" rief er ihr zu. Doch schon der verzweifelte Ausdruck auf Goramas Gesicht war ihm Antwort genug.
"Das gibt’s doch nicht. Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein. Vielleicht versteckt sie sich nur irgendwo, um uns einen Schrecken einzujagen."
"Dann ist ihr das aber ganz großartig gelungen", meinte Gorama. "Ich mache mir ziemliche Sorgen. Immerhin ist es überhaupt nicht Sasanas Art, anderen einen Schrecken einzujagen. Etwas Schreckliches ist ihr zugestoßen. Das spüre ich ganz genau."
"Nun höre aber mit diesem Gerede auf. Du machst mir ja Angst", sagte der Hirsch. "Laß uns lieber noch einmal die ganze Strecke absuchen."
So kam es, dass die Taube und der Hirsch ganz langsam und immer wieder aufmerksam die Umgebung prüfend den Berg hinabstiegen, bis sie zu ihrem letzten Rastplatz kamen. Sie hatten nichts Ungewöhnliches bemerkt und auch nichts gesehen, was Sasana vielleicht als Versteck hätte dienen können.
"Und was machen wir jetzt?" fragte Stolzbrust und legte sich wieder genau dort in den Schatten, wo er schon einmal ausgeruht hatte. Die Taube ließ sich auf einem Stein nieder. Wenn sie nicht so aufgeregt und mit ihren sorgenvollen Gedanken beschäftigt gewesen wäre, hätte dieser Stein sicherlich ihre Aufmerksamkeit erregt. Seine Oberfläche war mit einer Schicht weißlicher Körner überzogen, doch an mancher Stelle schimmerte ein sehr schönes helles Grün durch diesen Belag durch.
"Ich habe keine Ahnung, was wir noch tun könnten", sagte Gorama und blickte Stolzbrust ratlos an.
"Meinst du, sie könnte umgekehrt sein?" fragte der Hirsch.
"Aus welchem Grund sollte sie das tun? Und warum hätte sie uns nichts davon gesagt?"
"Was kann denn nur passiert sein?" fragte Stolzbrust, allerdings nicht so sehr an Gorama gerichtet, sondern an sich selbst.
"Vielleicht steckt ja dieser geheimnisvolle Bergbewohner dahinter, der dort oben seine Hütte hat," vermutete Gorama.
"Und wie soll er an uns vorbei gekommen sein, ohne dass wir ihn bemerkt hätten?" wollte der Hirsch wissen.
"Ich weiß es doch auch nicht", sagte Gorama. "Doch erinnere dich: es gibt auch Wesen, die unsichtbar sind."
Stolzbrust dachte kurz nach und erinnerte sich an die Begebenheiten mit dem Kobold, der ihr friedliches Tal einmal mit seinen seltsamen Späßen heimgesucht hatte. Wie aber sollte so ein Kobold die Elfe spurlos verschwinden laßen? Genau diese Frage stellte er der Taube.
"Es muß ja nicht ein Kobold gewesen sein", entgegnete Gorama. "Vielleicht gibt es noch viel größere und gefährlichere Wesen, die unsichtbar sind oder sich unsichtbar machen können."
"Damit sind wir aber wieder bei der Frage: Und was machen wir jetzt?"
Eine Weile saßen beide Tiere nachdenklich und schweigend da. Dann meinte Gorama:
"Wenn uns vielleicht jemand Antworten auf unsere Fragen geben kann, dann ist es der Besitzer der Hütte am Pass. Er scheint hier schon ziemlich lange zu wohnen. Daher wird er uns vielleicht sagen können, was in diesem Gebirge vor sich geht."
"Jedenfalls ist es hier nicht ganz geheuer", sagte der Hirsch. "Steine, die ihre Form und ihre Farbe ändern, Luft, die flüssig wird und unverständliche Bilder malt, Elfen, die spurlos verschwinden - dieser Ort ist schon sehr geheimnisvoll."
Gorama hatte noch vor gar nicht langer Zeit geglaubt, der Hirsch habe sich die Sache mit dem seltsamen Stein nur eingebildet. Doch jetzt sah sie die Geschichte in einem anderen Licht. Merkwürdige Dinge gingen hier vor. "Komm", sagte sie entschlossen. "Wir machen uns auf den Weg und stellen oben auf dem Pass einige Fragen."
"Wir sollten uns aber nicht mehr trennen, sondern besser immer zusammenbleiben, damit wir uns nicht auch noch verlieren", sagte der Hirsch, der sich erhoben hatte.
Gorama gab zu, dass sich das sehr vernünftig anhörte, obwohl es sie in ihren Federn juckte, zu der Hütte vorauszufliegen und zu versuchen schon einiges herauszufinden. Es war schlimm genug, nicht zu wissen, was mit Sasana geschehen war. Bei der Vorstellung, diesem trostlosen Gebirge ganz allein ausgesetzt zu sein, überkam die Taube aber ein eiskalter Schauer. Nein, nein, der Hirsch hatte recht. Sie mußten zusammenbleiben.
Also machten sich die beiden Tiere daran, den Rest des Aufstieges gemeinsam zu meistern. Und weil die Sorgen um Sasana ihre Gedanken beherrschten, sprachen sie während ihres Weges nicht sehr viel miteinander. Auch fielen ihnen die Mühen des Weges nicht so sehr auf, wie vorher - obwohl die zwei Wegstunden nicht weniger anstrengend waren, als die bisherigen.

Als sie sich der Passhöhe näherten, hielt Stolzbrust inne. "Wo ist diese Hütte, von der du gesprochen hast?" fragte er die Taube.
"Rechts vom Pfad steigt der Berg noch einmal an. Der Berg hat keine richtige Spitze. Wahrscheinlich war er mal ein Vulkan, denn dort oben ist eine Senke. In die hinein wurde die Hütte errichtet", antwortete Gorama.
"Führt ein Weg hinauf?" wollte der Hirsch wissen.
"Wenn dort ein Weg ist, dann habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen."
"Und wie gelangt der Besitzer der Hütte dorthin?"
"Ich weiß es nicht", sagte die Taube. "Vielleicht kann er fliegen. Oder er kann sehr gut klettern."
"Du meinst also, dass ich es nicht schaffen werde, zu der Hütte zu kommen." Stolzbrust sah ziemlich niedergeschlagen aus.
Gorama nickte. "Es tut mir sehr leid. Wir werden uns nun wohl doch für kurze Zeit trennen müßen."
"Das ist nicht gut", sagte Stolzbrust. "Das ist ganz und gar nicht gut. Wir sollten auf jeden Fall zusammenbleiben."
"Und wie bekommen wir dann Antworten auf unsere Fragen? Sollen wir solange warten, bis wer auch immer da wohnt sich bequemt, zu uns zu kommen? Und was, wenn er sich überhaupt nicht blicken läßt?"
Stolzbrust sah ein, dass er sich fügen mußte. "Na gut", sagte er. "Dann flieg schon los. Aber laß mich nicht zu lange warten. Und sei sehr vorsichtig."
"Keine Sorge", versuchte Gorama ihn zu beruhigen. "Ich werde schon gut auf mich aufpassen."
Mit diesen Wort flog sie los.
Stolzbrust sah ihr nach, bis seine Augen die Taube aus dem Blick verloren. In seinem Bauch verspürte er ein eigenartiges Gefühl, ein Drücken und Zwicken, das nichts Gutes verhieß.
"Mir wäre wohler, wenn sie schon wieder zurück wäre", dachte er. "Ich hätte sie nicht allein zu der Hütte lassen sollen."
Da es aber nicht sehr viel gab, was er hätte tun können, legte er sich nieder und wartete. Beständig suchten seine Augen den Berg und den Himmel ab, um nur ja nicht die Rückkehr der Taube zu verpassen.
Die Zeit schien nun stillzustehen. Immer wieder prüfte der Hirsch den Stand der Sonne, um Aufschluß darüber zu erhalten, wie lange die Taube schon unterwegs war. Und mit jeder Minute, die er tatenlos verbringen mußte, verstärkte sich das mulmige Gefühl in seinem Magen.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus, so untätig zu liegen. Er erhob sich und lief ein kurzes Stück den Pfad hinauf. Dann blieb er wieder stehen und beäugte den Himmel. Nichts. Also kehrte er wieder um und ging die wenigen Schritte zu seinem Liegeplatz zurück. Dort drehte er sich wieder und blickte zur Bergspitze hinauf. Noch immer nichts. Unruhig machte er wieder einige Schritte bergan. Und so lief er immer hin und her, zwischendurch nach der Taube Ausschau haltend. Bergauf, bergab, bergauf, bergab. Nichts, nichts und noch immer nichts.
Langsam näherte sich die Sonne dem Punkt, an dem sie hinter einer Bergspitze verschwinden und untergehen würde. Danach würde es sehr schnell dunkel werden. Bei dem Gedanken, dass Gorama bis zur Dunkelheit nicht mehr zurückkehren könnte, wurde dem Hirsch noch ängstlicher zumute. Nicht so sehr, weil er das Alleinsein in dieser unwirtlichen Gegend fürchtete, sondern weil er sich Sorgen machte, der Taube könnte etwas zugestoßen sein.
Er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich den eleganten Flug seiner wiederkehrenden Freundin zu sehen. Doch dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Dennoch stand er auch noch lange nach Einbruch der Dunkelheit da und starrte in die Richtung, aus der Gorama angeflogen kommen mußte.
Schließlich sah er ein, dass alles Warten vergebens war. Er legte sich wieder nieder, versuchte das Durcheinander seiner Gedanken zu ordnen und sich selbst zu beruhigen. Wahrscheinlich machte er sich völlig unnötig Sorgen. Wie schon einmal würde ihn die Taube am Morgen mit allerlei neckenden Bemerkungen über sein Schnarchen wecken. Ganz sicher würde sie das, ganz sicher - hoffentlich.
Er lag zwar noch eine ziemliche Weile wach, dann jedoch übermannte ihn der Schlaf. Die mühevolle Kletterei des Tages forderte nun ihren Tribut. Wenn du den Hirsch hättest schlafen sehen können, hättest du sicherlich bemerkt, dass ihn schlimme Träume quälten. Von Zeit zu Zeit lief ein Zittern durch seinen Körper und einige Muskeln zuckten unruhig. Sehr erholsam war sein Schlaf jedenfalls nicht.

Zeichnung von Hanne H.

Sehr weit von dem Ort entfernt, an dem Stolzbrust in unruhigen Schlaf fiel, machte an diesem Abend eine Elfe eine sehr eigenartige Beobachtung.
Ihr Weg zum Farbenwald führte sie einige Stunden durch ein sehr ödes Gelände, das mit vielen großen Steinblöcken übersät war. Diese Strecke versuchte sie – so, wie in jedem Jahr auf ihrer Wanderung zum Großen Fest - so schnell es nur ging hinter sich zu bringen. Es wurde schon langsam dunkel, als sie endlich aus der Ansammlung von Steinblöcken heraus kam.
Froh darüber, diese merkwürdige und beinahe unheimliche Gegend endlich verlassen zu können, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück. Dabei fiel ihr ein heller Punkt in der Ferne auf, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Es sah aus, als schwebte ein Stern über einem dicken Felsblock.
Die Elfe hielt inne und überlegte, ob sie umkehren sollte, um in Erfahrung zu bringen, was es damit auf sich hatte. Bei dem Gedanken, noch einmal bei einbrechender Dunkelheit in dieses Gebiet zurück zu kehren und womöglich noch die ganze Nacht dort verbringen zu müßen, war ihr nicht sehr wohl. "Außerdem würde ich damit zuviel Zeit verlieren", entschied die Elfe. "Ich möchte den Festplatz nicht zu spät erreichen."
Mit einem letzten nachdenklichen Blick auf das ungewöhnliche Bild setzte sie ihren Weg fort. Schon bald dachte sie nicht mehr an das Gesehene.

Zeichnung von Hanne H.

Als Stolzbrust am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich noch immer schlapp und kraftlos. Seine Beine kamen ihm sehr steif vor, als er sich erhob. Er schüttelte sie - eins nach dem anderen - aus und gähnte kräftig.
"Jetzt hätte ich gerne ein gutes Frühstück", dachte der Hirsch. "Oh, wie gerne wäre ich in dem Wäldchen in unserem Tal, wo es so herrlich saftige Wiesen und Blatttriebe gibt."
Er sah sich suchend um, konnte jedoch nichts Eßbares entdecken. Bekümmert befahl er sich selbst, nicht mehr an seinen Hunger zu denken.
Und dann fiel ihm wieder ein, unter welchen Umständen er sich letzte Nacht zur Ruhe begeben hatte.
"Gorama!" rief er und suchte die Umgebung mit seinen Augen ab. Zu sehen war nichts. Also hob er seine Nase in den Wind und prüfte die Gerüche des frühen Morgens. Doch auch zu riechen gab es nichts.
Unschlüssig stand der Hirsch da. Was jetzt? Sollte er noch weiter auf Gorama warten? Sollte er versuchen, diese Hütte zu erreichen, obwohl Gorama gemeint hatte, er käme doch nicht bis zu ihr hinauf? Sollte er lieber wieder umkehren und aus seinem Heimattal Hilfe holen? Sollte er versuchen, den Festplatz der Elfen zu erreichen und diese um Hilfe bitten?
Er wußte einfach nicht, was jetzt richtig war. Schließlich entschloß er sich, zunächst einmal bis zur Passhöhe zu laufen. Vielleicht fand er ja dort etwas, was ihm weiterhelfen könnte.
Mit zögernden Schritten setzte er diesen Gedanken in die Tat um. Sehr vorsichtig, immer wieder die Nase witternd in den Wind hebend, machte er sich auf den Weg. Was auch immer der Elfe und der Taube zugestoßen war, ihm sollte nichts dergleichen geschehen.
Doch auf dem Weg zur Passhöhe traf er auf nichts Ungewöhnliches. Als er sie erreichte, staunte er über den herrlichen Ausblick, der sich ihm auf das Tal auf der anderen Bergseite eröffnete. Dann aber erinnerte er sich wieder daran, was ihn auf diesen Berg gebracht hatte. Er blickte zur Bergspitze hinauf. Zur Rechten des Pfades stieg eine Felswand steil auf. Während der Fels im unteren Teil ganz normal, eben wie ein Fels aussah, ging nach nur wenigen Metern sein steinernes Grau in ein Silberschwarz über. Und weil die Flächen auch völlig glatt zu sein schienen, glänzte er im Schein der Morgensonne. Von einer Hütte war jedenfalls nichts zu sehen.
"Vielleicht kann ich ja mehr erkennen, wenn ich dort links auf diese Felsplatte steige", dachte der Hirsch.
Er lief zu der Platte hinüber, die aus dem Berg zur Linken des Pfades heraus ragte. An deren Seite lagen viele Steine. Manche hatten die Größe von Frischlingen, andere waren schon eher so groß wie ein ausgewachsener Keiler. Und sie waren so angeordnet, als seien sie als eine Treppe gedacht, über die man auf die Felsplatte gelangen konnte.
Stolzbrust zögert, sich dieser Treppe anzuvertrauen.
Er hatte beinahe den Eindruck, als hätte jemand die Steine mit Absicht so angeordnet, um ihn auf die Platte zu locken. Da er aber unbedingt einen besseren Blick auf die Spitze des Berges brauchte und es sonst keine andere Stelle gab, die ihm geeignet erschien, überwand er seine Zweifel und stieg ganz langsam und vorsichtig auf die Steine.
Bei jedem Schritt erwartete er, dass etwas passieren würde. Doch alles blieb ruhig. Die Steine trugen ihn sicher hinauf.
Bevor er sein ganzes Gewicht der Platte überließ, prüfte er sehr sorgfältig mit den Vorderhufen, ob sie ihn auch tragen und nicht etwa herausbrechen würde. Doch auch diese Bedenken schienen nicht gerechtfertigt zu sein. Also trat er in voller Größe auf den Fels hinaus.
Tatsächlich. Von hier aus sah er viel besser. Die Felswand gegenüber stieg steil auf. Oben schien sie jedoch keinen richtigen Abschluß zu haben. Er sah keine Spitze, keine ebene Fläche und keinen Rand. Der Fels schien seltsam abgerundet zur anderen Seite wieder abzufallen. Und aus der Senke ragte der offenbar kreisrunde obere Teil einer merkwürdigen grauen Behausung heraus.
Dort mußte er also hingelangen. Doch wie?
Stolzbrust studierte die Felswand und ihre Umgebung sehr genau. Dabei ließ er seinen Blick besonders sorgfältig die linke Seite des Berges absuchen. Wenn es einen Weg gab, mußte er dort sein, denn die rechte Seite hatte er ja schon bei seinem Aufstieg erfolglos gründlich abgesucht.
Und dann fiel seinem Auge etwas auf. Nur ein kurzes Stück den Pfad in das linke Tal hinunter lagen zwei große Steinbrocken am Wegesrand. Auf deren Rückseite entdeckte er einen sehr schmalen und sehr kurzen helleren Streifen auf dem Boden, der an der linken Seite eines weiteren Felsblocks zu verschwinden schien.
"Na also", dachte er bei sich, "es gibt doch einen Weg."
Er beschloß, sich das einmal genauer anzusehen. Doch als er sich umdrehen wollte, um die Felsplatte auf dem Weg zu verlassen, auf dem er gekommen war, stellte er verblüfft fest, dass seine Füße ihm nicht gehorchen wollten. Noch während er den linken Vorderfuß heben wollte, blickte er zu ihm hinunter und erschrak. Die so massiv aussehende Felsplatte hatte unter seinen Füßen nachgegeben und ihn einsinken lassen. Und jetzt bemerkte er, dass er auch noch immer tiefer in den Stein hineinsank.
Sofort versuchte er, sich aus dieser Lage zu befreien. In schneller abwechselnder Folge bemühte er sich, seine Füße in die Höhe zu ziehen. Anfangs stellte sich kein rechter Erfolg ein. Doch dann hatte er mit seinem Treten, Ziehen und Rücken den Füßen soviel Spielraum verschafft, dass es ihm gelang mit einem gewaltigen Sprung seinen bisherigen Standort zu verlassen. Es kam ihm so vor, als segelte er eine kleine Ewigkeit durch die Luft, bevor seine Füße wieder den festen Boden des Pfades unter sich spürten. Der Aufprall fuhr ihm gewaltig in die Schultern und seine Beine fühlten sich an, als seien sie zusammengeschoben worden.
Nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, vergewisserte er sich, dass er sich bei dieser Landung nicht verletzt hatte. Alle vier Beine und die Schultern taten ihm zwar höllisch weh, doch zu seiner Erleichterung deutete nichts darauf hin, dass er sich etwas gebrochen haben könnte. Seine ersten etwas unsicheren Schritte bestätigten dies.
Na, da gab sich ja jemand sehr viel Mühe, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Ganz langsam wurde der Hirsch wütend, sehr wütend sogar. Was war bloß los in diesem Gebirge? Welche Ungeheuerlichkeiten sollten ihm denn noch passieren? Wo waren Sasana und Gorama?
Also, dieser Geschichte würde er jetzt auf den Grund gehen. Entschlossen setzte er sich in Bewegung, den Pfad zum linken Tal nehmend.
Nach dreißig Schritten erreichte er die beiden Felsbrocken, hinter denen er einen Weg zur Bergspitze vermutete. Obwohl der Zwischenraum schon sehr eng war, zwängte er sich durch ihn hindurch. Dann lief er links an dem dritten großen Felsblock vorbei. Danach knickte der schmale Trampelpfad nach rechts ab. Doch er schien nirgendwo hinzuführen. Der Pfad endete unmittelbar vor der fast senkrecht in die Höhe steigenden Felswand. Auf dieser Seite des Berges hatte das Gestein eine tiefschwarze Farbe.
"Aus", dachte der Hirsch. "Das war’s."
Und die Enttäuschung ließ ihn einknicken - ganz langsam, zuerst vorne und dann hinten. Er lag da und empfand nichts. In seinem Innern herrschte völlige Leere.



Flußlandschaft - Eine Zeichnung von Hanne H.

Für die Zeichnung danke ich sehr herzlich Hanne H.
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