D i e    E l f e    S a s a n a
Die Elfe Sasana
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
 Der Einzelgänger 
 Die Reise zum Großen Fest 
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


Elfenzeichnung von Pia H. - Vergrößerung in der Bildergalerie

Wie alle Elfen in unserem Teil der Welt, wurde Sasana im Farbenwald geboren. Von diesem Wald hast du noch nie gehört? Na ja, du bist ja auch keine Elfe. Wir Menschen haben für diesen Wald einen ganz anderen Namen. Diesen könnte ich natürlich auch aufschreiben, doch dann wäre es schon bald mit dem Frieden der Elfen dort vorbei. Die Elfen nennen ihn Farbenwald, weil er ein besonders farbenfroher Wald ist. Er liegt so fern von aller Aufgeregtheit unserer Menschenwelt, dass der Elfennachwuchs dort in aller Ruhe und völlig ungestört aufwachsen und alles lernen kann, was eine Elfe so braucht.

Der Farbenwald ist beinahe so etwas, wie eine Schule für Elfen. Er bietet eine solche Vielfalt von verschiedenen Pflanzen und Tieren, wie man sie sonst nur noch sehr selten findet. Und da die Elflinge möglichst viel über Pflanzen und Tiere wissen müßen, ist der Farbenwald der beste Ort für ihre Erziehung.

Nur weil ich von einer "Schule" gesprochen habe, darfst du dir nicht zwanzig oder dreißig Elflinge in einem Klassenraum vorstellen, die mehr oder weniger folgsam auf ihren Stühlchen sitzen und einer Lehrerin zusehen, die eine Wandtafel vollschreibt und manchmal ruft: "Lisa, schwatz nicht mit deiner Nachbarin."
Meist leben nur vier oder fünf Elflinge gleichzeitig im Farbenwald. Es gibt eben leider nicht mehr so viele Elfen auf unserer Erde und auch nicht mehr so viele Orte, an denen sie nach ihren Gewohnheiten und Gebräuchen leben können.
Und da ist noch etwas, was du über die Elfenschule wissen mußt: Es gibt keine Lehrerin. Du wirst jetzt sagen: "Das ist aber eine seltsame Schule. Wie sollen die Elflinge denn da etwas lernen?"
Elfen sind halt sehr erfindungsreiche Wesen und haben sich schon sehr viele kluge Dinge einfallen lassen.
Wenn ein Elfling in das richtige Alter kommt, um damit zu beginnen, all die Dinge zu lernen, die eine Elfe wissen muß, überlegt der Große Elfenrat, in welchem Elfenrevier dieser Elfling leben könnte, wenn er ausgelernt hat.
Als Sasana in dieses Alter kam, wurde entschieden, dass sie später in das Tal am Fuße des Berges Porot einziehen sollte. Der Große Elfenrat sah sich in den Elfenrevieren der Nachbarschaft dieses Tales nach einer geeigneten Elfe um, die Sasana während des letzten Teils ihres Aufenthaltes in der "Schule" eine gute Gefährtin sein könnte.
Nicht allzu weit von diesem Tal entfernt lebte die Elfe Una in einer Flußniederung, die für ihr kleines Ulmenwäldchen berühmt war.
Besser hätte es Sasana kaum treffen können. Sie verstand sich auf Anhieb sehr gut mit Una, und schon nach kurzer Zeit waren die beiden die dicksten Freundinnen.
Der "Unterricht" bestand darin, dass Una und Sasana gemeinsam durch den Wald streiften, sich sehr viel unterhielten, miteinander spielten und tanzten, Gespräche mit den Tieren des Waldes führten und überhaupt sehr viel Spaß hatten. So erfuhr Sasana ganz nebenbei alles, was Una über Pflanzen und Tiere wußte.
Sasana war von Una sehr beeindruckt. Was ihre Freundin nicht alles wußte, und wie klug sie war. Und sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Sie war immer freundlich, gelassen und ausgeglichen.
Doch Sasana hatte auch umgekehrt auf Una einen großen Eindruck gemacht. Was sie nicht alles wissen wollte und wie schnell sie Dinge lernte und verstand.
Sasana hörte ihrer Freundin sehr gerne zu. Unas Stimme hatte einen angenehm warmen Klang, und sie erzählte ihre Geschichten auf eine sehr fesselnde Weise. Sie konnte Orte oder Lebewesen so schildern, dass Sasana glaubte, sie vor ihren Augen zu sehen.
Die beiden Freundinnen verbrachten eine herrliche Zeit im Farbenwald.

Eines Tages ließ Sesin, die Wächterin des Farbenwaldes, Una und Sasana durch einen kleinen Spatz zu sich bitten. Sie schwebten so schnell sie nur konnten zu Sesins Hütte.

Oh - jetzt habe ich doch tatsächlich vergessen, dir zu erzählen, dass Elfen schweben können. Sie haben zwar zwei Beine, auf denen sie herumlaufen, weil sie aber federleicht sind, können sie auch über dem Boden dahinschweben, ohne die Beine zu gebrauchen. Ja, sie können sogar einige Meter in die Höhe schweben. Frage mich nicht, wie sie das genau machen. Ich weiß es auch nicht - ich bin eben keine Elfe. Nun aber zurück zur Geschichte.

Die beiden Freundinnen trafen also vor Sesins Hütte ein und waren recht aufgeregt, weil sie nicht wußten, was auf sie zukam.
Sesin trat aus ihrer Hütte heraus und begrüßte die Ankömmlinge mit einem freundlichen "Hallo, ihr beiden. Wie war euer Tag bisher?"
"Wir hatten eine Menge Spaß," antwortete Una. "Möchtest du, dass wir es dir in allen Einzelheiten erzählen?"
"Nein, nein," lachte Sesin auf. "So genau will ich lieber nicht wissen, welchen Unsinn ihr wieder angestellt habt."
"Oh, verzeih," sagte Una. "Ich hätte daran denken müßen, dass du uns nicht rufen läßt, damit wir dir erzählen, wie unser Tag bisher war."
"Du mußt dich nicht entschuldigen. Vielleicht sollte ich so etwas tatsächlich viel öfter tun," meinte Sesin noch immer lachend. "Das könnte ziemlich lustig sein." Mit vor Vergnügen strahlendem Gesicht wandte sie sich an Sasana: "Wie würde es dir gefallen, das Ling zu verlieren?"
Sasana sah ratlos von Sesin zu Una und wieder zu Sesin zurück, weil sie nicht verstanden hatte, um was es eigentlich ging. "Was soll ich verlieren?" fragte sie.
Sesin strahlte noch breiter: "Das Ling natürlich."
Und weil sie sah, dass Sasana noch immer nicht verstand, fuhr sie fort: "Heute bis du noch ein Elf-ling und morgen schon eine Elfe."
Jetzt ging Sasana ein Licht auf.
"Ist das dein Ernst? Soll ich eine richtige Elfe sein? Einfach so?"
Sie konnte noch nicht so richtig fassen, was gerade geschah.
"Du b i s t eine Elfe," sagte Sesin sehr bestimmt. "Wenn du es nicht glaubst, dann frage deine Freundin."
Sasana sah erwartungsvoll zu Una. Diese nickte beinahe betrübt dreinschauend mit dem Kopf: "Ich kann dir nichts mehr beibringen. Du weißt jetzt alles, was ich weiß."
"Genau," unterbrach Sesin, "und darum wird es Zeit, dass du dich an den Gedanken gewöhnst, den Farbenwald zu verlassen und in das Tal zu ziehen, das von nun an dein Zuhause sein wird."
Sasana freute sich wie ein Schneekönig. Jetzt war sie endlich eine richtige Elfe, so wie Una und Sesin. Herrlich! Doch dann sah sie wieder den betrübten Ausdruck auf Unas Gesicht, und ihr wurde klar, was Sesins Worte noch bedeuteten: Sie mußte den Farbenwald verlassen. Sie wäre nicht mehr Tag für Tag mit ihrer Freundin Una zusammen. Jetzt verstand sie auch, warum Una so traurig aussah.
"Wann muß ich denn gehen?" fragte sie Sesin zögernd.
"Keine Sorge," meinte Sesin, die die Veränderungen in Sasana erkannt und richtig gedeutet hatte. "Du wirst nicht Hals über Kopf aus unserem Wald hinausgeworfen. Ich sagte doch, dass du dich an den Gedanken zu gehen gewöhnen sollst. Von jetzt an kannst du jederzeit in dein Tal, wenn du es wünscht. Also nutze die nächsten Tage und bespreche dich mit Una. Und wenn ihr dann soweit seid, solltet ihr euch zusammen auf den Weg machen."
Sie sah die beiden Freundinnen sehr aufmerksam an, überlegte kurz und fuhr dann fort:
"Abschied ist immer schmerzhaft. Denkt aber daran, dass ihr euch gegenseitig besuchen könnt. Außerdem kommt ihr einmal im Jahr zu unserem Großen Fest hierher in den Farbenwald. Und auf jedes dieser Wiedersehen werdet ihr euch schon wochenlang vorher freuen. Also blast keine Trübsal, sondern schmiedet Pläne."
Sasana und Una nickten mit dem Kopf, doch so richtig überzeugt waren sie nicht. In den nächsten Tagen trennten sie sich noch seltener, als vorher. Sie wollten soviel Zeit miteinander verbringen, wie es nur ging.

Acht Tage später suchten sie zusammen Sesin auf und sagten ihr, dass sie am nächsten Tag aufbrechen würden. Sesin umarmte sie beide, wünschte ihnen eine gute Reise und ein baldiges Wiedersehen im Farbenwald.

Zeichnung von Hanne H.

Als der Morgen graute, traten sie ihre Wanderung an. Sie hatten sich entschlossen, zuerst zu Unas Flußniederung zu reisen und dort noch einige Tage zu verbringen. Sasana brannte darauf, das Revier kennenzulernen, von dem Una ihr schon so viel berichtet hatte. Danach wollten sie dann zu dem Tal weiterziehen, in dem Sasana ihre eigene Laubhütte bauen sollte.
Ich erspare dir die genaue Schilderung ihres langen Marsches bis zur Flußniederung. Die beiden hatten es nämlich nicht sonderlich eilig und trödelten herum. Sie wollten halt den Tag, an dem es für eine lange Zeit Abschied voneinander nehmen hieß, so weit hinausschieben, wie es nur ging.
Sie redeten und redeten miteinander. Sie ließen in ihren Gesprächen noch einmal all die Zeit auferstehen, die sie zusammen verbracht hatten. Auf diese Weise wollten sie diese Erinnerungen tief in ihren Gedanken und Gefühlen verankern. Und sie folgten dem Rat Sesins, nicht über den Abschied nachzudenken, sondern so viele Wiedersehen wie nur möglich zu verabreden.
Bis Una sagte: "Warte einmal einen Moment. Wenn wir so weitermachen, trennen wir uns überhaupt nicht. Denn gerade dann, wenn du nach einem Besuch bei mir zu deinem Tal aufbrichst, muß ich mich auf den Weg machen, um dich zu besuchen. Und wenn ich wieder heimkehre, kannst du gleich zu deinem nächsten Besuch mitkommen."
Sasana lachte: "Das ist ja grade das Schöne an unseren Plänen."
"Na, ich habe eher das Gefühl, dass wir etwas übertreiben. Schließlich müßen wir uns ja auch noch um unsere Reviere kümmern."
Und wie richtig Una damit lag , stellte sich schon kurz nach der Ankunft der beiden in der Flußniederung heraus.
Als sie sich Unas Laubhütte näherten, sagte diese kein Wort. Sie war sehr gespannt darauf, ob Sasana merken würde, dass sie das erste Ziel ihrer Reise bald erreichten. Nachdem sie ihr soviel über ihr Revier erzählt hatte, müßte sie eigentlich ... Und da rief Sasana auch schon: "Sieh mal, diese herrlichen Ulmen. Das sind doch sicher deine Ulmen. Es müßen deine sein. Genau so habe ich mir dein Zuhause vorgestellt. Es ist doch dein Zuhause?"
Una nickte glücklich: "Ja, dies ist mein Zuhause. Ist es nicht wunderschön?"
Sasana war ganz begeistert. Die Ulmen waren schon sehr beeindruckende Bäume, sehr hoch, mit mächtigen Stämmen und breiten, gewölbten Kronen. Sie standen kräftig und gesund.
Doch viel Zeit, sich dieses Anblicks zu freuen, hatten die Freundinnen nicht. Ein Bussard hatte sie entdeckt und alarmierte mit einem durchdringenden Schrei die gesamte Nachbarschaft. "Una ist wieder da! Freunde, kommt herbei, Una ist wieder da!"
Ich kann dir sagen: das war vielleicht ein Hallo! Innerhalb kürzester Zeit strömten alle möglichen Tiere in dem Ulmenwäldchen zusammen: Kaninchen, Rehe, Wildschweine, Fischotter, Wildenten, Füchse, Hirsche - ich kann sie gar nicht alle aufzählen.
Alle redeten durcheinander, lachten und freuten sich. Ein solches Stimmengewirr hast du noch nicht gehört. Erinnerst du dich noch an das größte Durcheinandergerede, das du jemals gehört hast? Gut - dann stelle dir jetzt einmal vor, es wären doppelt so viele Leute gewesen und die hätten doppelt so laut alle zugleich geredet. Dann hast du einen Eindruck davon, was sich bei der Heimkehr Unas abspielte. Es war grauenhaft schön.
Grauenhaft für die Ohren. Schön für die Seele. Es tut nun einmal unheimlich gut, wenn du nach langer Abwesenheit zurückkehrst und ganz deutlich merkst, dass dich deine Freunde schmerzlich vermißt haben und erleichtert und froh darüber sind, dich wiederzusehen.
Der Rest des Tages war ein einziges Wiedersehensfest. Die beiden Elfen mußten erzählen und erzählen, wie es ihnen im Farbenwald ergangen war. Kaum holten sie einmal Luft, wurden sie auch schon wieder gedrängt weiter zu reden. Als es Una beinahe ein wenig zu viel wurde, rief sie: "So, jetzt habe ich aber genug geredet, nun seid ihr dran. Wie ist es euch während meiner langen Abwesenheit so ergangen?" Erwartungsvoll sah sie in die Runde.
Ein Kaninchen setzte gerade an, etwas zu erzählen, als ein Rehbock sich vordrängte und ausrief: "Dafür ist morgen auch noch Zeit! Heute wollen wir uns erst einmal freuen, dass du wieder hier bist. Warum sollten wir dich heute schon mit all den kleinen Wehwehchen behelligen, die es immer gibt."
"Genau," bekräftigte ein Wildschwein. "Der Alltag kehrt schon früh genug ein. Heute feiern wir das Wiedersehen."
Eine Ente warf ein: "Wenn Una nicht mehr reden kann, soll ihre Freundin fortfahren. Ihr könnt nicht mittendrin einfach aufhören. Es ist so spannend. Bitte, erzähle weiter."
So bedrängt blieb den beiden Elfen nichts übrig, als wohl oder übel mit ihrem Bericht über ihre Zeit im Farbenwald fortzufahren. Es wurde noch ein ziemlich langer Abend.

Zeichnung von Hanne H.

Als die Freundinnen am nächsten Morgen nach langem tiefem Schlaf aus der Laubhütte heraus traten, sahen sie den Rehbock nur wenige Schritte vor der Hütte liegen. Es sah aus, als wartete er auf sie. Denn bei ihrem Anblick erhob er sich und sah sie erwartungsvoll an. Er blieb jedoch an seinem Platz stehen, so als wollte er nicht unaufgefordert stören.
Una kannte ihre Tiere sehr genau. Sie sah Sasana an und meinte: "Oh je, irgend etwas ist geschehen, und meine Freunde trauen sich nicht so recht, es mir zu sagen."
Und zu dem Rehbock gewandt sagte sie:
"Komm ruhig näher. Es ist schön, dass du hier bist. Laß uns ein wenig reden. Doch du mußt versprechen, den Hauptteil der Unterhaltung zu bestreiten, weil ich gestern meinen Mund so viel bewegen mußte, dass er mir noch immer weh tut."
Der Rehbock trat langsam näher. "Du hast also schon bemerkt, dass etwas nicht stimmt?" fragte er.
Una nickte: "Dein Ablenkungsmanöver war gestern nicht zu überhören."
"Ich wollte eben nicht, dass du schon gleich am ersten Tag, den du hier bist, mit Schwierigkeiten belästigt wirst. Weil die Angelegenheit aber auch nicht mehr viel länger aufgeschoben werden kann, bin ich heute sehr früh gekommen."
"Na, dann immer heraus damit," forderte Una ihn auf.
Der Rehbock berichtete nun, dass kurz nach Unas Abreise zwischen dem Dachs und den Fischottern ein Streit vom Zaune gebrochen worden war, an dessen Grund sich schon niemand mehr erinnern konnte. Wahrscheinlich wußten nicht einmal die Streithähne mehr, worum es ursprünglich gegangen war. Jedenfalls ließ keine der beiden Seiten eine Gelegenheit aus, dem Zank wieder neue Nahrung zu geben. In den letzten Wochen war es immer schlimmer und schlimmer geworden. Schließlich verkündete der Dachs vor einigen Tagen wutentbrannt, mit solchen Widerlingen könne er nicht in einem Revier wohnen. Als andere Tiere versuchten, ihn zu beschwichtigen, beschimpfte er auch diese. Noch am selben Tag sei der Dachs verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Und nun machten sich alle große Sorgen um ihn. Er sei ja noch nie aus der Flußniederung herausgekommen und kenne sich in der Welt nicht aus. "Er ist zwar manchmal schon ein grantiger alter Zausel," schloß der Rehbock seinen Bericht, "aber er ist doch auch ein Freund. Was sollen wir also tun?"

Und so kam es, dass die nächsten Tage ganz anders verliefen, als die beiden Freundinnen sich erhofft hatten. Es wurde nichts mit den langen ruhigen Spaziergängen durch Unas Revier. Statt dessen gab es viel Arbeit. Die Suche nach dem Dachs mußte organisiert werden. Mit den Fischottern mußte geredet werden, damit der Streit nicht sofort wieder auflebte, wenn der Dachs schließlich gefunden war. Und - und - und. Als auch nach fünf Tagen noch keine Spur von dem Dachs entdeckt war, nahm Una Sasana beiseite und sagte: "Es sieht ganz so aus, als würde es noch ziemlich lange dauern, bis diese Geschichte geklärt ist. Du aber mußt endlich in dein Tal weiterziehen. Macht es dir etwas aus, wenn ich dich nun doch nicht begleite?"
Sasana verstand ihre Freundin sehr gut. "Natürlich würde ich lieber gemeinsam mit dir zu meiner neuen Heimat wandern. Doch es hilft nichts: du wirst hier gebraucht. Mache dir also keine Sorgen. Ich finde mich schon zurecht. Du kannst mich ja besuchen kommen, wenn hier alles wieder in Ordnung gebracht ist."
Una bedankte sich bei Sasana und umarmte sie.
"Du sollst aber nicht allein reisen. Komm mit, ich stelle dir eine alte Freundin von mir vor. Sie kann dir Gesellschaft leisten und auch sonst gute Dienste tun."
"Das ist doch nicht nötig," sagte Sasana. "Ich werde auch so zurechtkommen."
"Das bezweifle ich auch nicht," entgegnete Una. "Es ist aber sehr viel angenehmer, nicht allein durch eine völlig fremde Gegend zu ziehen."
Und so führte sie Sasana in das Wäldchen hinein. Nach einer Stunde blieb sie vor einer alten Birke stehen und rief:
"Gorama! Gorama, bist du zuhause?"
Lange mußten die beiden Freundinnen nicht warten. Einige Zweige und Äste bewegten sich, und es raschelte in den Blättern. Eine große Taube balancierte über dünne Zweiglein näher und gurrte: "Bist du es, Una? Seit wann bist du wieder im Lande? Geht es dir gut? Du hast wohl die Fremde nicht länger ausgehalten. Na, das kann ich verstehen. Schön, dich wieder hier zu haben."
Una unterbrach sie lachend: "Sag mal, stellst du immer so viele Fragen, die du gar nicht beantwortet haben willst?"
"Oh, entschuldige," sagte die Taube, deren Kopf sich rötlich verfärbte, "das ist nur die Freude, dich zu sehen. Also, seit wann bist du wieder am Fluß?"
"Du weißt doch sonst immer alles, was in der ganzen Gegend so vor sich geht. Und nun hast du mich schon ganze fünf Tage auf deine Begrüßung warten lassen," sagte Una.
"Fünf Tage schon?" Die Taube guckte sehr ungläubig drein. "Seit fünf Tagen bist du schon zurück, und du kommst erst jetzt zu mir?"
"Es tut mir sehr leid. Ich bin durch eine arge Geschichte aufgehalten worden."
"Laß mich raten," fiel die Taube ein. "Bestimmt hat das etwas mit dem Dachs und den Fischottern zu tun."
Una nickte bestätigend mit dem Kopf und berichtete der Taube dann den Stand der Dinge.
"Diese unvernünftigen Narren," sagte Gorama. "Ich habe geahnt, dass so etwas geschehen würde. Zuerst versuchte ich, den Streit zu schlichten. Doch so halsstarrige Streithähne habe ich noch nicht gesehen. Schließlich gab ich es auf und zog mich hierher zurück. Dieses ewige Gezeter, Geschrei und Gezanke ging mir fürchterlich auf die Nerven. Darum bin ich auch schon lange nicht mehr bei deiner Laubhütte gewesen."
Die Taube schien erst jetzt zu bemerken, dass Una noch jemanden mitgebracht hatte. "Und wer ist deine Begleiterin?" fragte sie.
"Dies ist Sasana," erwiderte Una, "meine Freundin aus dem Farbenwald. Sie wird in das Tal am Fuße des Berges Porot einziehen."
"Oh, wie gut. Es wird aber auch höchste Zeit, dass sich wieder jemand um dieses Revier kümmert," meinte die Taube. "Es ist schön dich kennenzulernen."
Sasana begrüßte die Taube ebenso freundlich und fragte dann: "Warum wird es höchste Zeit?"
"Deine Vorgängerin hat das Tal schon vor einiger Zeit verlassen. Und nach allem, was ich gehört habe, soll es dort nun drunter und drüber gehen."
Sasana sah nachdenklich drein. "Dann werde ich wohl ziemlich viel Arbeit haben," murmelte sie.
"Mehr als genug," fügte die Taube entschieden hinzu.
"Du mußt wissen, dass Gorama ziemlich lange in dem Tal gelebt hat, das nun dein Zuhause sein soll," sagte Una zu Sasana gewandt. Und an Gorama gerichtet fuhr sie fort: "Das ist auch der Grund, warum ich dich bitten möchte, Sasana zu dem Tal zu begleiten. Du kennst den Weg und du kennst auch die Tiere des Tales. Du wirst Sasana also eine große Hilfe sein können. Ich würde meine Freundin gerne selbst hinbringen, doch die leidige Geschichte mit dem Dachs und den Fischottern ist dazwischen gekommen."
Die Taube rückte ihre Flügel zurecht und sagte dann: "Kein Wort mehr. Selbstverständlich werde ich Sasana helfen, so gut ich kann." Und dann fügte sie mit schelmischem Ton hinzu: "Was bleibt mir auch anderes übrig. Du kommst sonst noch auf die Idee, ich solle mich um diese streitlustigen Gesellen kümmern, während du doch selbst Sasana begleitest."
Alle drei lachten. So war es abgemacht, dass Sasana und Gorama die Reise zum Tal unternehmen würden. Da sie gleich am nächsten Morgen aufbrechen wollten, wurde entschieden, dass Sasana die Nacht bei der Taube verbringen und die Reise von dort aus antreten sollte. Una und Sasana nahmen also voneinander Abschied. Ich weiß nicht, wie es dir geht; mich nehmen Abschiedsszenen jedenfalls immer ganz schön mit. Darum erspare ich mir, genauer aufzuschreiben, wie sich dies abspielte. Nur so viel sei gesagt: es war für alle Beteiligten ganz schön schwer.

Zeichnung von Hanne H.

Am nächsten Morgen machten Sasana und die Taube sich auf den 3-Tage-Weg zum Berg Porot.

Sasana zwar ziemlich froh, dass sie nicht alleine gehen mußte. Gorama war eine gute Weggefährtin. Nie ging ihr der Gesprächsstoff aus. Und wenn man sich so angeregt unterhält, wie die beiden es taten, merkt man überhaupt nicht, wie die Zeit vergeht und wie groß die Strecke ist, die man zurücklegt. Als sie am Abend den Waldrand erreichten, wußte Sasana schon eine Menge über das Tal und seine Bewohner. Und Gorama hatte manches über Sasanas Zeit mit Una im Farbenwald erfahren.
Trotz aller Plauderei vergaß Gorama aber auch keinen Augenblick die Wachsamkeit, die einer Taube eigen ist. Unablässig beobachtete sie sehr aufmerksam die Umgebung, durch die sie zogen.
In der Nähe einer Elfenhütte konnte man recht sicher sein, freundliche Zeitgenossen zu treffen. Doch mit jedem Schritt, der sie weiter von Unas Laubhütte entfernte, nahm die Möglichkeit zu, auch auf unfreundliche Wesen zu treffen.
Die Nacht verbrachten die beiden Reisenden ungestört im Schutze eines Gebüschs am Waldrand. Der nächste Tag führte sie über grüne Hügel. Sie waren nur spärlich mit Bäumen bewachsen. Dafür wuchsen viele Sträucher und Büsche und natürlich alle Arten von Gräsern.
Gorama unterbrach die Unterhaltung jetzt öfter als am Vortag, um für einige Augenblicke in die Höhe zu steigen und sich in der Gegend umzusehen. Jedesmal traf sie beruhigt wieder bei Sasana ein, weil sie keine Gefahren gesehen hatte.
Am späten Nachmittag des zweiten Tages brachte Gorama von einem ihrer Erkundungsflüge die Nachricht mit, dass von der nächsten Hügelkuppe aus schon der Berg Porot zu sehen sein würde.
Sasana konnte es nicht abwarten. Sie schwebte augenblicklich in die Höhe, um einen ersten Blick auf den Berg zu erhaschen. Und als sie hoch genug war, um über den Hügel hinweg zu sehen, stockte ihr der Atem. Obwohl er noch ein gutes Stück entfernt am Horizont lag, beeindruckte sie der Berg sehr. Sein ungeheuer breites Felsmassiv sah wahrhaftig majestätisch aus.
"Und wie sollen wir diesen Berg überqueren?" fragte sie, und es klang, als zweifelte sie sehr stark daran, dass es überhaupt möglich war, über diesen Berg hinwegzukommen.
"Wir müßen nicht bis auf seine Spitze klettern," antwortete Gorama. "Direkt rechts unterhalb des Felsmassivs führt ein Pass auf die andere Seite. Mach dir keine Sorgen. Das schaffst du schon. Doch jetzt sollten wir weiterziehen, damit wir den Fuß des Berges noch vor der Dunkelheit erreichen."
Die Worte der Taube schienen Sasana etwas beruhigt zu haben. Doch ihre Zweifel kehrten mit jedem Schritt zurück, der sie dem Berg näher brachte. Er wuchs unaufhörlich vor ihren Augen. Sie war sehr froh, dass sie nicht schon heute mit dem Aufstieg beginnen mußte und sich erst noch eine Nacht erholen konnte.
Allerdings konnte sie nicht sehr gut schlafen, so aufgeregt war sie. Nicht nur, weil sie sich nicht sicher war, den Weg über den Berg zu schaffen, sondern auch, weil sie morgen zum ersten Male i h r Tal sehen sollte. Morgen würde es sich zeigen, ob sie wirklich eine Elfe war und mit all den Schwierigkeiten fertig werden konnte, um die sich eine Elfe kümmern mußte.
So kam es, dass sie nicht ganz so ausgeruht war, wie sie es gerne gehabt hätte, als der Aufstieg auf den Berg Porot begann. Doch es stellte sich heraus, dass der Weg, den Gorama ihr wies, durchaus nicht so anstrengend war, wie sie es gefürchtet hatte. Es gab keine wirklich steilen Anstiege. Vielmehr zog sich der Weg in langen Windungen den Berg hinauf, so dass es überhaupt nicht nötig war, zu klettern. Ganz im Gegenteil, sie genoß diese Wanderung sehr.
Am frühen Nachmittag erreichten sie den linken unteren Rand des Felsmassivs, an dem nun der Weg entlang nach rechts führte. Als sie schon die Biegung vor Augen hatte, die sie zur Talseite des Berges bringen sollte, sagte die Taube: "Und nun mach dich auf etwas gefaßt."
"Warum? Was ist denn? Hast du irgend etwas gesehen?" fragte Sasana besorgt.
"Nichts dergleichen," erwiderte Gorama. "Aber du wirst jetzt gleich etwas sehen, was du so noch nie gesehen hast. Komm schon, es lohnt sich."
Die Taube flog voran, bog um die Ecke und war nicht mehr zu sehen. Sasana beeilte sich, ihr zu folgen. Doch als auch sie um den Felsen herumbog, sah sie zunächst nichts, als den Weg, der ein kurzes Stück etwas steiler nach oben führte. Oben angelangt, blieb sie dann jedoch wie angewurzelt stehen. Und nun wußte sie, was die Taube gemeint hatte.
Ihr bot sich ein atemberaubender Ausblick auf ein fruchtbares Tal: verschiedene Laubwäldchen und Nadelgehölze, saftige, blumenübersäte Wiesen, einige Bäche, zwei Seen.
Sasana stand da und schaute begeistert ins Tal hinunter. Sie erweckte beinahe den Eindruck, als sauge sie diesen Anblick geradezu in ihre Seele auf.
"Na, habe ich zuviel versprochen?" fragte die Taube, die sich unbemerkt auf einem Felsbrocken neben dem Weg niedergelassen hatte.
"Es ist geradezu phantastisch!" jubilierte Sasana. "So schön habe ich es mir selbst in meinen Träumen nicht ausgemalt. Das ist also mein Zuhause. Ich liebe es jetzt schon."
Und weil Sasana sich von diesem Anblick nicht losreißen konnte, blieben die beiden noch eine Weile und genoßen die Aussicht.
Nach einer Stunde mahnte die Taube jedoch zum Aufbruch. "Wenn wir jetzt nicht weitergehen, kommen wir heute nicht mehr im Tal an."
"Auf ins Tal!" rief Sasana und sprang auf ihre Füße. "Hallo, ihr Tiere, Sasana kommt!"
Kopfschüttelnd sah die Taube, wie Sasana plötzlich losrannte, als wollte sie die verlorene Stunde wieder einholen. "So eilig haben wir es aber noch nicht!" rief sie der Elfe hinterher. Doch die ließ sich nicht beirren und strebte mit unverminderter Geschwindigkeit den Berg hinunter. Es blieb Gorama nichts übrig, als ihr möglichst schnell zu folgen.
Die Elfe hielt ihr Tempo tatsächlich solange durch, bis sie die Talebene erreicht hatte. Und auch jetzt machte sie keine Anstalten, zu verweilen. Zielstrebig schritt sie aus.
"Sag mal, wo willst du eigentlich hin?" fragte die Taube verwundert. "Hast du denn schon ein Ziel ausgemacht?"
"Aber natürlich!" rief Sasana ihr über die Schulter zu und ihre Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. "Hast du denn nicht die Wiese in der Mitte des Tales gesehen, auf der einige Lindenbäume stehen? Hast du denn nicht die Silberlinde gesehen, die dort wächst? Ein herrlicher Baum! Genau der richtige für mich!"
Die Elfe blieb nicht eher stehen, bis sie den Rand der Wiese erreicht hatte. Es wehte ein leichter Wind, und im Abendsonnenschein war deutlich zu sehen, warum dieser Baum Silberlinde genannt wurde. Der Wind bewegte nicht nur die Äste und Zweige hin und her, er hob und senkte auch die Blätter, so dass immer abwechselnd von einigen die obere grüne Fläche und von anderen die im Sonnenlicht silbrig glänzende Unterseite zu sehen war.
"Hier werde ich meine Laubhütte errichten," sagte Sasana. "Ist dies nicht ein wunderschöner Platz?"
Die Taube pflichtete ihr beeindruckt bei. "Es stimmt. Einen schöneren wirst du kaum noch finden. Doch bevor du ihn zu ´deinem` Baum erklärst, solltest du erst einmal nachsehen, ob ihn nicht möglicherweise schon jemand bewohnt, der es gar nicht gern hat, wenn du ihm das Heim streitig machst."
"Oh," sagte Sasana überrascht, "daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht. Meinst du, dass dort schon jemand wohnt?"
"Warum sehen wir nicht einfach nach?" fragte Gorama.
Und schon flog sie los. Diesmal war es Sasana, die sich nur zögernd vorwärts bewegte. Nicht auszudenken, wenn die Befürchtungen der Taube zutrafen. Nichts wünschte sich Sasana sehnlicher, als dass sich der Baum als unbewohnt erwies.
Gorama verschwand in dem Laubwerk des Baumes. Sasanas Herz schlug ihr bis zum Hals. Hoffentlich kam die Taube mit guten Nachrichten wieder heraus.
Doch so langsam Sasana auch ging: die Taube erschien nicht mehr.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Schließlich erreichte die Elfe den Baum, schob sich mit gebeugtem Kopf unter den ersten herabhängenden Äste durch und richtete sich wieder auf, als sie den Stamm berührte. Sie blickte suchend nach oben und entdeckte Gorama auf einem Ast. Die Taube war in ein Gespräch mit einer Schwalbe vertieft.
"Na und," rief Sasana ihr zu, " wohnt jemand auf dem Baum?"
"Natürlich wohnt jemand auf dem Baum," rief Gorama zurück, und jagte damit Sasana einen gehörigen Schrecken ein. "Jeder Baum ist bewohnt. Auf diesem hier haben einige Schwalben ihre Nester gebaut. Doch sie haben nichts gegen die Gesellschaft einer Elfe einzuwenden. Im Gegenteil. Sie sind sehr erfreut, dass du ihren Baum ausgesucht hast."
"Das stimmt," pflichtete die Schwalbe der Taube bei. "In diesen unsicheren Zeiten ist es eine große Beruhigung, dich in unserer Nähe zu wissen. Baue also ruhig deine Hütte auf. Wir alle werden dir selbstverständlich helfen, damit du schnell zu einem Dach über dem Kopf kommst."
Der Elfe fiel ein Stein vom Herzen. Ihre Freude war so groß, dass sie um den Baumstamm herumzutanzen begann und dabei in Elfenmanier jubelte. Nun fanden sich immer mehr Schwalben ein, die in ihren Nestern den Lärm gehört hatten und nachsehen wollten, was es damit auf sich hatte. Es sammelte sich auf den Ästen eine recht große Zahl von Zuschauern an, die schließlich die Elfe mit Gesang bei ihrem Tanz unterstützten.
Die Taube sah und hörte dem munteren Treiben befriedigt zu. "Na also," dachte sie bei sich, "da hat sie - kaum, dass sie eingetroffen ist - sich schon die ersten Freunde gemacht. Ich glaube, sie ist genau die Richtige für dieses Tal."
Der Elfentanz dauerte noch ein gehöriges Weilchen. Doch dann war Sasana außer Atem. Sie blieb stehen, stützte sich an dem Baumstamm ab und lachte. "So, jetzt kann ich aber nicht mehr," stieß sie hervor. "Ich muß mich erst einmal ausruhen."
Gesagt, getan. Sie schwebte kurzerhand zu dem Ast empor, auf dem schon Gorama saß.
"Ich bin die Elfe Sasana," sagte sie. "Der Große Elfenrat hat mich zu diesem Tal gesandt, damit ich euch unterstützen und helfen kann. Ich hoffe, wir werden gute Freunde werden."
"Ganz sicher," antwortete die Schwalbe, mit der Gorama die Unterhaltung geführt hatte. "Wer so gut zu unserer Musik tanzt, kann nur eine gute Freundin sein. Mein Name ist übrigens Braunauge."
"Guten Tag, Braunauge," sagte Sasana. "Vielen Dank für die freundliche Begrüßung und auch für das großzügige Angebot, mir beim Bau einer Hütte zu helfen. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich lieber erst morgen damit anfangen will. Heute möchte ich einfach nur noch auf diesem Ast sitzen und mein Tal - nein, u n s e r Tal betrachten. Der Sonnenuntergang muß von hier aus wunderschön anzusehen sein."
Und so war es auch. Die versinkende Sonne bemalte den Horizont mit allen roten Farbtönen.
Sasana saß schauend da, überwältigt von der Schönheit der Abendmalerei. Sie wollte und konnte nichts mehr denken und nichts mehr reden - nur noch genießen. Und während sie so saß, wurde sie eins mit der Natur, spürte deren Ruhe und Lebensgefühl.
Sie saß auch noch da, als die Sonne längst untergegangen, Mond und Sterne vom Himmel Besitz ergriffen und alle Schwalben ihre Nester aufgesucht hatten.
Schließlich atmete sie tief ein und wandte sich an Gorama. "Dies hier wird mein Lieblingssitz. Hier werde ich jeden Abend der untergehenden Sonne zusehen."
"Gut, gut," sagte Gorama. "Doch jetzt wird es Zeit für eine Mütze voll Schlaf. Der morgige Tag wird sicher ein sehr ereignisreicher. Du wirst viele Tiere kennenlernen, mit dem Bau der Laubhütte beginnen und sicherlich auch herausfinden müßen, warum die Schwalbe von unsicheren Zeiten geredet hat. Da ist es besser, ausgeruht zu sein."
Sasana dachte kurz nach und stimmte der Taube dann zu: "Das stimmt. Doch ich bin schon so gespannt auf all das Neue, dass ich sicherlich kaum schlafen kann."
"Keine Sorge," lachte die Taube. "So wie du ohne jede Rast vom Pass herunter ins Tal gerannt bist, hast du sicherlich mehr Kraft verbraucht, als du bisher gemerkt hast. Du wirst schlafen wie ein Stein."
Und auch damit lag Gorama wieder richtig. Sasana schlief sofort ein, als sie ihren Kopf auf dem Erdboden unten am Baumstamm bettete.

Zeichnung von Hanne H.

Es war eine traumreiche Nacht. All die tiefen und schönen Eindrücke dieses Tages kehrten in ihren Träumen zu der Elfe zurück. So genoß sie schlafend noch einmal den Ausblick vom Berg und auch den Sonnenuntergang.
Am nächsten Morgen wurde sie vom Gesang der Schwalben, die die aufgehende Sonne begrüßten, geweckt. Sie reckte sich nur kurz und schwebte dann schon wieder zu dem Ast hinauf, auf dem sie den Sonnenuntergang genossen hatte. Gorama hatte noch immer den Kopf unter einem Flügel versteckt und schlief. Sasana gönnte ihr den Schlaf und verhielt sich sehr ruhig.
Nach einiger Zeit fanden sich wieder Schwalben auf den Ästen ein, und es entwickelte sich ein Gespräch zwischen der Elfe und den Vögeln. Um Gorama nicht zu stören, fand die Unterhaltung nur im Flüsterton statt.
"Sag mal," wandte sich Sasana an Braunauge, "du hast gestern von unruhigen Zeiten gesprochen. Was meintest du denn damit?"
"Seit einiger Zeit treibt sich ein Luchs in unserem Tal herum. Er ist ein sehr gefährlicher Zeitgenosse. Er macht auf beinahe alles Jagd, was ihm vor die Augen kommt. Kein Tier ist sicher vor ihm. Nur an die ausgewachsenen Wildschweine, den Leithirsch und die Wildpferde traut er sich nicht heran. Alle anderen betrachtet er aber als Beute. Auch wir sind nicht vor ihm sicher, da er ausgezeichnet klettert und jeden Baum erklimmen kann. Das Gemeine ist, dass er zumeist nachts auf der Pirsch ist, wenn alle anderen schlafen. Auf leisen Sohlen schleicht er sich heran und überfällt seine Opfer."
"Habt ihr denn schon einmal mit ihm geredet und davon zu überzeugen versucht, dass er mit solchem Verhalten aufhören muß?"
"Das ist viel zu gefährlich. Wer ihm nicht aus dem Weg geht, wird angegriffen. Da fällt das Reden schwer," antwortete Braunauge.
"Es ist schon sehr unhöflich, so leise zu flüstern. Ich verstehe ja nichts," meldete sich Gorama, deren Kopf aber noch immer unter dem Flügel steckte. "Da könnte ich auf den Gedanken kommen, ihr zieht über mich her."
"Zeig uns erst einmal, ob du auch wirklich wach bist," erwiderte Sasana lachend. Und als die Taube ihren Kopf hervorzog und hob, fuhr die Elfe fort:
"So ist es schon besser. Während du Schlafmütze noch friedlich geschlummert hast, habe ich schon in Erfahrung gebracht, was den Frieden des Tales stört."
"Du meinst sicher, w e r den Frieden des Tales stört," sagte Gorama. "Ein Luchs ist nämlich kein ´Was`, sondern ein ´Wer`."
Die Taube genoß den entgeisterten Gesichtsausdruck der Elfe.
"Du weißt von dem Luchs?"
"Natürlich," antwortete Gorama. "Schon in unserem ersten Gespräch hatte ich dir gesagt, dass ich in letzter Zeit einiges über die Zustände in diesem Tal gehört hatte. Wenn ich mich recht erinnere habe ich gesagt, dass es hier drunter und drübergehe."
"Und warum hast du mir nichts von dem Luchs erzählt?" wollte Sasana wissen.
"Du hast mich nicht gefragt. Darum dachte ich, dass du es eben selbst herausfinden wolltest," lautete die verblüffend einfache Antwort.
"Na, du bist mir ja eine Freundin," sagte Sasana. "Es wäre mir lieber, wenn du mir künftig solche wichtigen Dinge sagst und mich nicht im Dunkeln tappen läßt."
"Ich hätte es dir schon noch gesagt, wenn du es heute morgen nicht herausgefunden hättest. Aber du hast es ja auch alleine geschafft. Und das ist doch wohl ein schönes Gefühl - oder?"
Nun schaltete sich Braunauge wieder in das Gespräch ein: "Ist es nicht unwichtig, durch wen du von dem Luchs erfahren hast? Wichtiger ist doch wohl, dass du dir Gedanken darüber machst, wie dieses Tal wieder zu dem friedlichen Ort wird, der es einmal war."
Dies aber wollte Gorama nicht gelten lassen: "Du hast ja so recht und gleichzeitig so unrecht. Es stimmt, dass es unwichtig ist, wer Sasana von dem Luchs berichtet hat. Doch die Gedanken, die du ansprichst, muß sich nicht allein Sasana machen. Diese Gedanken müßen sich alle machen, die in diesem Tal leben."
"Genau!" rief Sasana laut aus. "Das ist es. Gorama, du bist ja so klug. Damit hast du alles wieder gutgemacht. Dein Plan ist großartig."
Nun war es an der Taube, entgeistert dreinzuschauen: "Mein Plan? Welcher Plan?"
"Nun sei nicht so bescheiden," fuhr Sasana voller Tatendrang fort. "Wir werden es genau so machen, wie du gesagt hast. Alle müßen sich Gedanken machen. Also, laßt uns an die Arbeit gehen. Braunauge, würdest du deine Artgenossen bitten, die anderen Tiere im Tal davon zu unterrichten, dass Gorama und ich in diesem Tal eingetroffen sind. Sie sollen außerdem darum bitten, dass die anderen Tierfamilien jeweils eines ihrer Mitglieder zur Silberlinde entsenden, damit wir gemeinsam überlegen können, wie wir das mit dem Luchs regeln können. Meinst du, wir können mit der Versammlung beginnen, wenn die Sonne am höchsten steht?"
Braunauge nickte: "Bis dahin können alle hier sein. Endlich kommt Bewegung in dieses Tal. Endlich."
Und mit diesen Worten flog Braunauge los, um mit ihren Artgenossen zu reden. Schon nach kurzer Zeit flogen die ersten Schwalben mit ihren guten Nachrichten los.
"Und was machen wir?" fragte Gorama.
"Wir beide fangen mit dem Bau meiner Hütte an," sagte Sasana. "Niemand nimmt eine Elfe ernst, die nicht einmal eine Hütte ihr eigen nennt."
"Übertreibst du da nicht etwas?"
"Elfen übertreiben nie!" sagte Sasana und lachte. "Wir tragen nur ein bißchen dick auf."
Und während auch das entfernteste Fleckchen in dem Tal von einer Schwalbe aufgesucht wurde, machten sich Sasana und Gorama daran, Äste, Zweige und Blätter zu sammeln, aus denen die Laubhütte für Sasana errichtet werden sollte. Die Taube trug natürlich nur die kleineren Zweige und Laub zusammen; richtige Äste waren viel zu schwer für sie.
Nach gar nicht langer Zeit trafen bereits die ersten Tiere ein, die von den Schwalben benachrichtigt worden waren. Sie waren fürchterlich neugierig auf die Elfe und konnten die Mittagszeit nicht abwarten. Und weil sie der Elfe und der Taube nicht untätig bei der Arbeit zusehen wollten, faßten alle mit an. Als Sasana wieder einmal mit einem Arm voll Strauchzweigen zur Silberlinde kam, sah sie dort Berge von Ästen, Zweigen und Blättern.
Gar nicht weit davon entfernt stand ein mächtiges Wildschwein, ein Keiler. Er trat auf die Elfe zu und sagte:
"Man nennt mich Trüffelschnauze. Ich bin das Oberhaupt der Wildschweinrotte, die in diesem Tal lebt. Es freut mich, dass du eingetroffen bist." Und mit Blick auf die vielen Baumaterialien fuhr er fort: "Wieviel Elfen kommen denn noch?"
Sasana verstand sofort, was der Keiler meinte. "Wir sollten tatsächlich mit dem Sammeln aufhören und langsam mit dem Bauen beginnen. Material haben wir jetzt genug. Doch zunächst bedanke ich mich für deine Begrüßung. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, endlich hier zu sein."
"Laß mich ein wenig Ordnung in dieses Durcheinander bringen," sagte Trüffelschnauze.
Er hob den Kopf und rief mit lauter Stimme, die alle anderen Tiere in dem innehalten ließ, was sie gerade taten: "Genug! Wir brauchen keine Äste und kein Laub mehr! Fangt lieber damit an, die Hütte zu errichten!"
Zuerst herrschte einige Augenblicke völlige Stille. Dann brach ein ziemliches Stimmengewirr los.
"Genau." - "Er hat recht." - "Laßt uns endlich bauen."
Und gleichzeitig entstand ein Gewusel, wie Sasana es nicht für möglich gehalten hätte. Vögel, Hasen, Rehe, Hirsche, Wildpferde und andere Tiere liefen durcheinander. Sasana wurde angst und bange. "So wird das nichts. Keiner weiß, was der andere tut. Wie soll da eine bewohnbare Hütte entstehen?"
Doch der Keiler widersprach ihr:
"Laß sie nur machen. Du wirst staunen."
Schon nach wenigen Minuten konnte die Elfe tatsächlich erste Umrisse erkennen, die darauf schließen ließen, dass eine Hütte entstand. Obwohl niemand Anweisungen gab, arbeiteten alle Hand in Hand - oder besser: Schnabel in Huf oder Pfote in Flügel. Und in nur einer halben Stunde stand eine geräumige Hütte unter dem Blätterdach der Silberlinde.
"Na, was sagst du nun?" fragte Trüffelschnauze. "Ist das nicht eine tolle Hütte?"
Sasana war sprachlos. Sie nickte nur. Stille breitete sich unter den Tieren aus. Alle Augen waren auf die Elfe gerichtet. Und weil diese wie angewurzelt auf genau der Stelle stand, von der aus sie diesem unglaublichen Treiben zugesehen hatte, trat Trüffelschnauze hinter sie und gab ihr einen sanften Schubs.
"Nun besichtige deine Wohnung schon," forderte er sie auf.
Sasana konnte noch immer nicht reden, tat aber wie ihr der Keiler geheißen hatte. Sie trat mit langsamen Schritten auf die Hütte zu und begab sich genauso langsam hinein. Die Tiere hatten nicht einmal vergessen, in der Hütte eine Lagerstätte aus besonders weichen Blättern, Gras und Moosplatten zu bauen. Sasana trat wieder ins Freie und sah wortlos in die erwartungsvollen Gesichter der Tiere.
Gorama flog zu ihr herüber und setzte sich auf ihre Schulter. "Nun sag schon etwas," flüsterte die Taube der Elfe ins Ohr. "Das haben sie sich verdient."
Sasana nickte. Doch es dauerte noch einige Augenblicke, ehe sie sich so weit gesammelt hatte, dass sie tatsächlich reden konnte.
"Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll. Nie hätte ich gedacht, dass es so schnell gehen könnte, eine so tolle Hütte zu bauen. Ihr habt ein Meisterwerk vollbracht. Herzlichen Dank euch allen."
Sasana holte tief Luft. Dies sahen einige Tiere als ein Zeichen an, dass die Rede beendet war, und sie brachen in großen Jubel aus. Selbst wenn Sasana noch etwas hätte sagen wollen, so war dies nun unmöglich.
Trüffelschnauze kam in all dem Jubel auf sie zu. "Komm, ich stelle dir einige Tiere vor."
Sasana nickte und folgte dann dem Keiler.

Die nächsten Stunden bis zur Mittagszeit verbrachte die Elfe damit, viele Tiere zu begrüßen und mit ihnen jeweils kurze Gespräche zu führen.
Als die Sonne am höchsten stand, war tatsächlich jede Tierfamilie des Tales vertreten.
Gorama flog zu Sasana hinüber, die sich gerade mit einigen Eichhörnchen unterhielt. "Wird es nicht langsam Zeit?" fragte sie die Elfe.
Diese sah sich um und staunte über die Vielzahl der Tiere, die sich um die Silberlinde herum versammelt hatten. "Ja, wir beginnen. Doch ich sollte von einer Stelle aus reden, wo mich alle sehen können."
Kamiri, das Wildpferd, hatte dies gehört und kam nun näher. "Wie wäre es, wenn du dich auf meinen Rücken setzt? Dort könnten dich alle sehen."
"Wäre es dir denn recht?" fragte die Elfe.
"In einem Fall wie diesem, muß es eben sein," stellte das Pferd fest. "Außerdem sind Elfen ja nicht schwer. Also los. Steig auf."
Sasana bedankte sich bei Kamiri, schwebte in die Höhe und ließ sich dann vorsichtig auf den Rücken des Pferdes sinken. Sofort kehrte Ruhe in die Versammlung der Tiere ein.
"Liebe Tiere," begann Sasana, "ich danke euch für das so freundliche Willkommen, das ihr mir bereitet habt. Doch bei all der Freude dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns nicht zu einem Fest zusammengefunden haben, sondern um darüber zu reden, wie wir mit dem gefährlichen Luchs fertig werden können. Hat jemand von euch eine Idee?"
Auf diese Frage hin sahen sich die Tiere gegenseitig an. Alle schienen mehr oder weniger ratlos zu sein. Ein Hase meldete sich schließlich zu Wort: "Also uns Hasen bleibt nur das Wegrennen und Hakenschlagen. Wie sollten wir wohl sonst mit einem Luchs fertig werden?"
"Ganz richtig," bestätigte ein Eichhörnchen. "Mehr kann man nicht tun."
Auch Trüffelschnauze konnte nicht mit einer Idee dienen. "Ich bin kein Hase und renne nicht vor dem Luchs weg. Doch auch ich kann meine Rotte nicht in jeder Sekunde vor dem Luchs schützen. Er hat sich schon einen Frischling geholt, und ich konnte nichts dagegen tun. Hast du denn keine Idee?" fragte er Sasana.
Diese sah einige Augenblicke nachdenklich auf den Hals der Stute. Dann ergriff sie das Wort.
"Doch, ich habe eine Idee. Heute morgen hat Gorama, die Taube, etwas zu Braunauge gesagt, was mir sehr einleuchtend schien. Sie sagte, dass sich alle Gedanken darüber machen müßten, wie der Gefahr begegnet werden könnte. Ich dachte bei mir, dass dies stimmt. Wenn man allein keine Idee hat, wie man etwas lösen kann, dann müßen sich eben alle einfinden und gemeinsam überlegen. Und dann sah ich euch dabei zu, wie ihr alle gemeinsam meine Hütte gebaut habt. Ganz ehrlich: anfangs hatte ich erhebliche Zweifel, ob dabei etwas Bewohnbares herauskommen würde. Ihr aber habt mich eines Besseren belehrt. Diese Hütte, die ihr dort seht, ist der beste Beweis dafür, dass viele zusammen etwas schaffen können, was einer allein nie zuwege bringen würde. Wenn wir jeder für uns allein nicht mit dem Luchs fertig werden können, warum tun wir uns dann nicht einfach alle zusammen?"
"Und wie stellst du dir das vor?" fragte Trüffelschnauze.
"Wißt ihr, wo sich der Luchs zur Zeit aufhält?"
Eine der Schwalben, die als Botschafter unterwegs gewesen waren, rief ganz aufgeregt: "Ich habe ihn ganz in der Nähe des Quellsees auf dem Ast einer Eiche schlafen sehen. Er wartet dort die Nacht ab, um dann wieder auf die Jagd zu gehen."
"Das ist gut," sagte Sasana. "Wir aber werden die Nacht nicht abwarten. Wir werden jetzt handeln. Hört euch meinen Plan an."
Wenn du denkst, dass ich dir jetzt schon Sasanas Plan verrate, dann irrst du dich aber gewaltig. Laß dich genau so überraschen, wie der Luchs.

Zeichnung von Hanne H.

Etwa eine Stunde später hättest du eine Elfe auf das Eichenwäldchen in der Nähe des Quellsees zulaufen sehen können. Auf ihrer Schulter saß eine Taube. Beide machten einen völlig unbekümmerten Eindruck. Als sie den Rand des Wäldchens erreichten, blieben sie stehen. Die Elfe hob beide Hände an ihren Mund und rief:
"He, du verschlafenes Kätzchen, wach auf, ich habe mit dir zu reden!"
Sie wartete, ob sich etwas rührte. Nichts geschah. Also rief sie erneut:
"Luchs, wach auf, du hast genug geschlafen! Es ist Zeit zu reden! Komm schon! Laß dich nicht länger bitten!"
Wieder wartete Sasana, ob Antwort kam. Und tatsächlich - aus dem Wäldchen erklang eine Stimme. Das dazu gehörende Tier ließ sich jedoch nicht sehen.
"Wer bist du, dass du es wagst, mich in meinem Schlaf zu stören und alleine vor mich hinzutreten?"
"Was heißt denn hier ´alleine`?" meldete sich Gorama zu Wort. "Zähle ich denn überhaupt nicht?"
"Für eine Taube bist zu zwar ganz schön fett," erwiderte die Stimme aus dem Wald, "doch dies macht dich noch nicht zu einem Gegner für einen Luchs. Also halte die Klappe. Mit dir rede ich nicht. Noch einmal: wer bist du?"
"Laß es gut sein, Gorama," flüsterte Sasana. Und dann rief sie wieder mit lauter Stimme: "Mein Name ist Sasana, und ich bin die Elfe dieses Tales. Du hast hier lange genug dein Unwesen getrieben und Angst verbreitet. Entweder bist du bereit, nun mit allen anderen Tieren Frieden zu halten und sie nicht mehr zu überfallen oder du mußt dieses Tal verlassen."
Zunächst blieb nach diesen Worten alles still. Doch dann erschallte ein Gelächter aus dem Wald. "Eine Elfe, eine einzelne Elfe baut sich vor mir auf und spuckt große Töne, na sowas."
"Gorama hat es dir schon gesagt. Ich bin nicht allein," erwiderte Sasana.
"Oh, entschuldige. Das hatte ich vergessen. Eine Elfe und eine Taube. Jetzt habe ich aber Angst."
Mit diesen Worten trat der Luchs gemessenen Schrittes aus dem Wald heraus. Er war schon ein sehr großes Exemplar seiner Art. Sein ganzer Körper schien nur aus Muskeln und Kraft zu bestehen und seine Bewegungen waren fließend und sehr geschmeidig. Sasana verstand nun sehr gut, warum die anderen Tiere sich mit ihm auf keinen Streit einlassen wollten.
"Es hilft dir nichts. Du mußt dich entscheiden. Halte den Frieden dieses Tales oder verschwinde. Was willst du also tun?"
"Das will ich dir sagen," antwortete die Raubkatze. "Normalerweise eße ich vor dem Dunkelwerden nichts. Doch diesmal mache ich eine Ausnahme. So einer kleiner Happen wird mir aber wohl nicht den Appetit verderben."
Der Luchs machte tatsächlich Anstalten, sich auf Sasana zu stürzen. Diese aber hob schnell ihre Hand. Auf dieses Zeichen hin schwang sich Gorama in die Höhe und setzte zu einem Angriffsflug auf den Luchs an. Dieser war darüber sehr verdutzt. Eine Taube, eine einzelne Taube griff ihn an? Das konnte er nicht glauben.
Und wenn er auf die Idee gekommen wäre, sich umzuschauen, hätte er sehen können, dass es nicht eine einzelne Taube war, die ihn angriff. So aber konzentrierte er sich nur auf die Taube, die auf ihn zuflog. Darum war er auch sehr überrascht, als er plötzlich ganz dicht an seinem Kopf Flügelschläge hörte, die sich ihm von hinten näherten. Noch bevor er den Kopf wenden konnte, bekam er von vielen Flügeln Ohrfeigen. Ein ganzer Schwarm von Amseln, Schwalben, Spatzen und anderen Vögeln schwirrte um ihn herum, dass ihm Hören und Sehen vergingen.
Und ehe er noch reagieren konnte, hatten die Vögel sich schon wieder von ihm abgesetzt.
"Wir sagten doch, dass wir nicht alleine sind," rief Sasana. "Halte den Frieden oder verschwinde!"
Doch der Luchs war durch diesen Überraschungsangriff nur noch wütender geworden.
"Glaubst du wirklich, eine Handvoll Vögel kann mich vertreiben?" Er schüttelte sich, so als wollte er lästige Fliegen vertreiben.
"Nein, das glaube ich nicht," erwiderte Sasana. "Doch vielleicht gelingt dies ja einer Handvoll Vögel, einem Hirschrudel, einer Wildpferdherde und einer Rotte Wildschweine zusammen."
Und nun hörte der Luchs zu seiner Verblüffung das Getrappel vieler Füße. Von rechts näherten sich eilig viele Hirsche und von links trabten Wildpferde auf ihn zu. Nun wußte er nicht mehr, woran er war. Als er dann hinter sich aus dem Eichenwald auch noch das Grunzen von Wildschweinen hörte, dämmerte ihm langsam, dass ihm eine Falle gestellt worden war.
Während die Elfe ihn ablenkte, hatten sich die Vögel in den Bäumen hinter ihm niedergelassen. Sie hatten ihn dann angegriffen, um den anderen Tieren die nötige Zeit zu verschaffen, ihn einzukreisen.
Doch bevor er lange überlegen konnte, wie er sich verhalten sollte, kamen die Vögel schon wieder über ihn. Sie schossen blitzschnell von allen Seiten auf ihn zu und verabreichten ihm erneut Ohrfeigen und Schnabelhiebe. Es waren so viele, dass an eine Gegenwehr überhaupt nicht zu denken war und ihm nichts blieb, als sich zu ducken.
Kaum ließen sie von ihm ab, mußte er erkennen, dass mittlerweile die Hirsche, die Pferde und die Wildschweine sehr nah an ihn herangekommen waren und ihn umzingelt hatten. Er blickte von einer Tiergruppe zur anderen und dann wieder zu Sasana.
Diese sprach nun zu ihm: "Du hättest dich für den Frieden entscheiden sollen. Nun hast du keine Wahl mehr. Weil du nicht einsichtig warst, werden wir dich jetzt aus unserem Tal werfen." Und zu den übrigen Tieren gewandt fuhr sie fort: "Nehmt ihn in eure Mitte und paßt auf, dass er nicht entwischen kann."
"Er soll nur versuchen auszureißen," meinte Trüffelschnauze. "Es wird mir ein Vergnügen sein, meinen Hauern etwas zu tun zu geben." Bei diesen Worten sah der mächtige Keiler den Luchs so böse an, dass diesem jeder Gedanke an Flucht verging.
Umringt von den Tieren, denen er so lange Angst eingejagt hatte, wurde der Luchs zu dem Weg geleitet, der zum Pass auf dem Berge Porot führte.
Am Fuße des Berges angelangt öffneten die Tiere den bis dahin geschlossenen Kreis um den Luchs herum so, dass er den auf den Berg führenden Pfad nehmen konnte.
Sasana ergriff das Wort: "Du wirst dieses Tal verlassen und nie wiederkommen. Glaube ja nicht, dass du auf halber Strecke umkehren kannst. Einige Vögel werden dich aus sicherer Entfernung beobachten. Wir werden dich hier erwarten und sicher nicht noch einmal so freundlich verabschieden. Oben am Pass werden einige von uns immer Wache halten. Du siehst, dass es sich nicht lohnt, auch nur einen Gedanken an eine Rückkehr zu verschwenden. Und jetzt setze dich in Bewegung!"
Der Luchs wirkte schon ziemlich eingeschüchtert. Er hatte sicher nicht erwartet, dass sich all die anderen Tiere gegen ihn zusammenschließen könnten. So etwas hatte es ja auch noch nicht gegeben. Mit mißtrauischen Seitenblicken auf seine Gegner schlich er sich langsam aus dem Kreis heraus und den Berg hinauf. Immer wieder blickte er sich um und vergewißerte sich, dass er wirklich nicht verfolgt würde.
Dem Keiler ging dies alles viel zu langsam. Als der Luchs sich wieder einmal umsah, setzte Trüffelschnauze sich entschlossen in Bewegung und stob auf die Raubkatze zu. Diese erschrak zu Tode und setzte dann in großen Sprüngen und sehr eilig über Stock und Stein hinweg.
Die Tiere sahen ihm nach, bis sie ihn aus den Augen verloren. Dennoch blieben alle am Fuße des Berges und warteten. Erst als Braunauge und einige andere Vögel von der Bergspitze zurückkamen und berichteten, der Luchs habe nicht einmal oben am Pass innegehalten, um Luft zu holen, atmeten alle erleichtert auf.
Die Rückkehr zu der Silberlinde glich einem Triumphzug. Alle waren sehr stolz darauf, den gefährlichen Luchs besiegt zu haben.
Am Versammlungsplatz bei der Linde warteten all die Tiere, die nicht mitgenommen worden waren, weil sie zu klein oder zu langsam waren. Ihnen wurden die Begebenheiten vom Eichenwald und vom Fuße des Berges Porot in allen Einzelheiten geschildert.
Du kannst dir sicher vorstellen, welches Hallo es gab, als allen klar wurde, dass Sasanas Plan tatsächlich Erfolg gehabt hatte.
Den Rest des Tages verbrachten alle Tiere des Tales damit, den Sieg über den Luchs zu feiern.
Und es wurde eine sehr lange Feier.

Am nächsten Morgen schwebte Sasana wieder zu dem Ast auf der Silberlinde und weckte Gorama. "Was meinst du - habe ich es mit diesem Tal nicht sehr gut getroffen?"
"Das hast du ohne jeden Zweifel. Doch dieses Tal hat es auch mit dir sehr gut getroffen."
"Oh, danke."
Ein kurzes Weilchen saßen die beiden schweigend nebeneinander. Dann ergriff Sasana wieder das Wort: "Heute möchte ich damit beginnen, das Tal richtig zu erkunden und seine Bewohner kennenzulernen. Ich möchte damit nicht eher aufhören, bis ich alle Tiere mit Namen kenne. Möchtest du mich begleiten?"
"Aber klar," antwortete Gorama. "Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen."
Und so zogen die beiden einige Tage gemeinsam durch das Tal. Als sie am Abend des vierten Tages wieder zur Silberlinde zurückkehrten, wartete dort zu ihrer Überraschung Una auf sie.
Die Wiedersehensfreude war groß. Nachdem sie sich gebührend begrüßt und umarmt hatten, fragte Sasana: "Hast du den Dachs gefunden und den Streit mit den Fischottern beenden können?"
"Der Dachs hatte sich gar nicht weit von meiner Hütte entfernt in eine Erdhöhle zurückgezogen. Er hatte nie ernsthaft vor, die Flußniederung zu verlassen. Die anderen Tiere - insbesondere die Fischotter - sollten lediglich ein bißchen erschrecken. Manchmal verhält sich selbst so ein alter Kämpe wie der Dachs reichlich kindisch. Als es ihm zu langweilig wurde, sich zu verstecken, kam er wieder hervor. Er hat es richtig genossen, dass sich alle solche Sorgen um ihn gemacht hatten. Wir haben ihm mit vereinten Kräften die Leviten gelesen. Doch nicht nur ihm, sondern natürlich auch den Fischottern. Und als das alles geregelt war, habe ich mich sofort auf den Weg zu euch gemacht. Wie ist es euch denn hier in der Zwischenzeit ergangen?"
Bevor Sasana antworten konnte, sprach Gorama schon: "Ach, es war ziemlich langweilig. Hier passiert ja nie etwas."
"Laß dich nicht verulken," protestierte Sasana. "Ich werde dir jetzt erzählen, was wirklich geschehen ist."
Und das tat sie dann auch. Una staunte nicht schlecht, wie gut ihre Freundin und Schülerin mit der Situation zurecht gekommen war.
Die drei Freunde verbrachten noch einige sehr schöne Tage miteinander in dem Tal. Dann wollte Una aber wieder zu ihrer Flußniederung zurück. "Na, Gorama, wollen wir uns auf den Weg machen?" fragte sie die Taube.
Diese trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und wußte nicht so richtig, wie sie antworten sollte. "Weißt du, Una, eigentlich möchte ich noch etwas bei Sasana bleiben. Ich denke, sie kann eine Beraterin gut gebrauchen."
Una lachte laut auf. "Sei ehrlich, altes Mädchen. Du magst Sasana sehr gern und erhoffst dir außerdem, in ihrer Nähe noch einige Abenteuer zu erleben."
Gorama stimmte in ihr Lachen ein und sagte dann: "Du hast noch vergessen zu erwähnen, dass ich es hier weder mit einem Dachs, noch mit Fischottern zu tun habe."
"Das ist auch ein Argument," stimmte Una zu. Und so blieb Gorama als Beraterin und Freundin im Tal der Elfe Sasana am Fuß des Berges Porot.



nach oben

Zurück zur Startseite