Der Einzelgänger
 Die Elfe Sasana 
 Aufregung im Elfental 
 Sasanas Ferien 
 Unas Ulmen 
Der Einzelgänger
 Die Reise zum Großen Fest 
 Wenn Igel träumen ... 
 


Eine Elfengeschichte von kellergoethe. Die Rechte liegen beim Autor. Jegliche Veröffentlichung und Vervielfätigung bedarf der vorherigen Genehmigung.


Elfenzeichnung von Pia H.

Einer der ungewöhnlichsten Nachbarn, den die übrigen Bewohner des Tales der Elfe Sasana am Fuße des Berges Porot jemals erlebten, war ein Bär; ungewöhnlich nicht so sehr wegen seiner Rasse, sondern wegen seines seltsamen Verhaltens.

Eines Tages stand er in voller Lebensgröße im Tal.
Niemand hatte ihn den Pass herunterkommen sehen. Er war einfach da.
Zuerst ängstigten sich natürlich viele vor ihm und bedrängten Sasana, sie möge ihn fortschicken. Doch die Elfe sagte:
"Jeder verdient es, angehört zu werden."
Und so machte sie sich auf den Weg, um den Bären in Augenschein zu nehmen. Sie mußte ihn nicht lange suchen. Schon nach wenigen Minuten kam er direkt auf sie zu. Es schien, als habe er sie gesucht.
Bei ihrem Anblick hielt er inne und beäugte sie mißtrauisch. Sasana schwebte auf ihn zu, achtete aber darauf, dass sie ihm nicht zu nahe kam.
Er bemerkte ihr der Vorsicht entspringendes Zögern, dachte einen Moment nach und legte sich dann langsam auf den Erdboden - so, als wollte er ihr zeigen, dass sie nichts zu fürchten habe.
Sasana ließ sich ebenfalls nieder und sprach dann mit fester Stimme:
"Sei herzlich willkommen in diesem Tal. Es scheint, Du hattest einen langen Weg. Darf ich dich fragen, wie du heißt, woher du kommst und wohin dich dein Weg führt?"
Der Bär hob seine breite Nase in den Wind und nahm einen tiefen Atemzug. Dann blickte er wieder zu der Elfe und sprach:
"Ich nehme an, du bist die Elfe Sasana?"
Ohne auf die Bestätigung zu warten, fuhr er fort:
"Ich habe schon viel von dir gehört. Es heißt, in deinem Tal könne jeder ungestört so leben, wie es ihm gefällt. Stimmt das?"
"Ja, das stimmt", entgegnete die Elfe. "Vorausgesetzt, er wahrt den Frieden dieses Tales."
"Gut", seufzte der Bär. "Endlich."
Weil sich dieser Seufzer so erleichtert anhörte, dachte Sasana nicht mehr daran, dass der Bär auf ihre Fragen noch nicht geantwortet hatte. Einen Augenblick lang schien ihr, als berge er einen tiefen Schmerz in seinem Innern. Doch schon hatte sein Gesicht wieder einen undurchdringlichen Ausdruck angenommen.
"Kann ich bleiben?" fragte er.
Sasana überlegte nur einen Moment. "Selbstverständlich", antwortete sie dann. "Du darfst bleiben, wenn du versprichst, dich nicht an den anderen Tieren zu vergreifen. Verwechsle sie nicht mit deinem Frühstück oder sonst einer Mahlzeit. Du darfst dich nur von Pflanzen ernähren. Glaubst du, du kannst das?"
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, willigte der Bär in die Bedingung ein:
"Keine Sorge. Von mir hat niemand etwas zu befürchten. Sage mir nur, wo ich wohnen kann."
Sasana überlegte eine kurze Weile und führte ihn dann zu der unbewohnten Höhle in dem Wäldchen nahe der Sauwiese. Der Bär warf nur einen kurzen Blick hinein und sagte:
"Das ist genau das, was ich suchte. Ich danke dir. Nach dem langen Weg brauche ich jetzt etwas Ruhe."
Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand in der Höhle.
Sasana sah sehr nachdenklich drein. Dann besuchte sie einige der Nachbarn des Neuankömmlings und bat sie, ein Auge auf den Bären zu haben.

Zeichnung von Hanne H.In den nächsten Tagen ging sie öfter zu diesem Teil des Tales und fragte die Tiere, wie sich der neue Mitbewohner benehme.
Was sie dabei erfuhr, ließ ihre Neugier nur noch stärker wachsen.
Der Bär belästigte niemanden. Er lebte völlig zurückgezogen in seiner Höhle und verließ sie nur für die Suche nach Beeren, Wurzeln und wohlschmeckenden Gräsern.
Wenn er dabei von anderen Tieren angesprochen wurde, ließ er sich nie auf längere Gespräche ein. Allerdings war er nicht unfreundlich. Wer ihm einen "Guten Morgen" wünschte, erhielt auch eine höfliche Antwort. Doch viel mehr war ihm nicht zu entlocken. Fragen nach seinem Namen etwa, pflegte er mit der Bemerkung zu beantworten:
"Ich könnte dir jetzt irgendeinen Namen sagen, und du würdest mir glauben oder auch nicht. Nenne mich also so, wie es dir gefällt. Mir ist es gleich."
Wegen seines Körperumfanges nannten ihn die Bewohner des Tales Koloss. Er hatte nichts dagegen - zumindest ließ er sich nichts dergleichen anmerken.
Wollte jemand wissen, wo er gelebt hatte, bevor er in das Tal gekommen war, sagte er:
"An vielen Orten, die du entweder kennst oder auch nicht. Kennst du sie, muß ich dir nichts über sie erzählen. Kennst du sie nicht, kann es dir gleich sein, wie es dort ist, denn es ist nirgendwo so schön, wie in diesem Tal."
Nachdem viele Talbewohner sich mit derartigen Anworten hatten zufrieden geben müssen, wurde Koloss nicht mehr mit Fragen behelligt. Nach einer Weile hatte sich jeder mit seinem Verhalten abgefunden. Viele mochten ihn sogar gern.

Zeichnung von Hanne H.So gingen einige Wochen ins Land.
Schließlich hielt Sasana den Zeitpunkt für gekommen, mit dem Bären über sein Verhalten zu reden.
"Mittlerweile müßte er gemerkt haben, dass er uns vertrauen kann", dachte sie bei sich.
Sie machte sich auf den Weg zur Bärenhöhle, wo sie Koloss auch tatsächlich antraf.
Nachdem sie Begrüßungsworte gewechselt hatten, fragte der Bär:
"Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?"
"Oh", sagte Sasana, "da du nun schon ein geraumes Weilchen hier lebst, will ich mich erkundigen, wie es dir gefällt und ob alles so ist, wie du es dir gedacht und gewünscht hast."
Koloss nickte: "Ja, es ist genau, was ich gesucht habe."
"Hast du dich mit deinen Nachbarn schon angefreundet?" fragte die Elfe leichthin.
Der Bär sah sie bei seiner Antwort nicht an:
"Alle sind sehr freundlich zu mir, und es hat nie Streit gegeben."
"Ja, das weiß ich. Doch ich wollte eigentlich hören, ob du Freunde gefunden hast."
Koloss wich jedoch mit seiner Antwort wieder aus:
"Ich kenne mittlerweile alle meine Nachbarn."
Sasana sah ein, dass sie so nicht weiterkam.
"Sag´ mal", begann sie von neuem, "warum machst du es uns allen so schwer?"
Unruhig verlagerte Koloss sein Gewicht von einer Seite auf die andere und zurück.
"Hat sich jemand beschwert?" wollte er wissen.
Die Elfe sah ihn erstaunt an. Schließlich entgegnete sie:
"Du weißt natürlich, dass ich es so nicht gemeint habe. Du lebst sehr zurückgezogen und läßt niemanden an dich heran. Warum?"
Der Bär sah sie lange aus seinen unergründlichen Augen an. Als er wieder sprach, klang seine Stimme sehr hart.
"Ich mag dich. Darum antworte ich so gut ich kann auf deine Fragen."
Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
"Ich habe vielen sehr wehgetan. Jeder Schmerz, den jemand meinetwegen oder durch mich ertragen mußte, ist mir zu gut in Erinnerung. Ich will nicht länger der Grund für soviel Leid sein. Einmal muß damit Schluß sein."

Der Bär schwieg. Sasana dachte lange nach, ohne den Blick von Koloss abzuwenden. Schließlich sagte sie:
"Mag sein, dass du anderen wehgetan hast. Doch es scheint, als hätten andere dir auch wehgetan. Hast du auch schon einmal daran gedacht, dass du jetzt anderen wieder wehtust? All denen nämlich, die deine Freundschaft wollen, und die du zurückweist?"
Koloss antwortete nicht. Doch sein Gesicht verriet, dass es hinter seiner Stirn mächtig arbeitete. Sasana setzte nach:
"Was muß ich tun, damit du die Freundschaft, die dir angeboten wird, auch annimmst?"
Wieder schien es, als sollte sie keine Antwort bekommen.
Doch dann erhob sich Koloss von seinem Platz, ging zum Eingang seiner Höhle und winkte Sasana zu sich heran. Er deutete mit einer Tatze zum abendlichen Sternenhimmel.
"Siehst du dort diesen hellen Stern? Du könntest ebensogut versuchen, ihn herunterzuholen."
Dann zog er sich ohne ein weiteres Wort in die hinterste Ecke der Höhle zurück, legte sich nieder und rührte sich nicht mehr.
Sasana wußte nicht, was sie noch sagen sollte. Und so machte sie sich auf den Heimweg.

Zeichnung von Hanne H.Den ganzen nächsten Tag verbrachte sie grübelnd auf dem Ast ihrer Silberlinde.
Als die Nacht wieder hereinbrach, schwebte sie zum Erdboden hinunter und zur kleinen Waldlichtung hinüber. Dort verharrte sie regungslos mit himmelwärts gewandtem Blick. Sehr lange stand sie so und sang ganz leise eine alte Melodie.
Und dann geschah das Unglaubliche. Der Stern, den Koloss ihr bezeichnet hatte, verließ seinen angestammten Platz am Himmel und fiel herunter.
Sasana fing ihn in ihrem Elfenkleidchen auf. Vorsichtig nahm sie das kleine Lichtwesen mit einer Hand auf und trug es wie eine Kerze vor sich her zur Bärenhöhle.
Viele Bewohner des Tales sahen sie mit dem Stern in der Hand feierlich dahinschweben und folgten ihr, um zu sehen, was geschehen würde.
Vor der Behausung des Bären angekommen, verharrte Sasana einen Augenblick in der Erwartung, Koloss würde vom Licht des Sterns und all dem Gewisper und Geraune der Umstehenden angelockt.
Doch die massige Gestalt des Bären erschien nicht im dunklen Höhlenmaul.
Also trat die Elfe schließlich ein. Koloss war jedoch nicht da.
Als sie wieder ins Freie kam, sah Sasana den Keiler Trüffelschnauze, das Oberhaupt der nahe wohnenden Wildschweinrotte.
"Hast du Koloss gesehen? Weißt du, wo er ist?" fragte sie den mächtigen Keiler.
"Gesehen habe ich ihn. Bei Einbruch der Nacht, kurz nachdem der Stern vom Himmel fiel", erwiderte das Wildschwein. "Er trabte dem Pass auf dem Berg Porot entgegen, als sei jemand hinter ihm her. Wo er jetzt ist oder wohin er wollte, weiß ich nicht."

Sasana stand da, wie vom Donner gerührt. Niemand wagte, sie anzusprechen und sich danach zu erkundigen, was eigentlich vor sich ginge.
Nach vielen Minuten wandte sie ihren Blick dem Stern in ihrer Hand zu:
"Versuche, ihn zu finden", sagte sie sehr leise. "Er braucht dich."
Sie ließ den Stern los, der zunächst in der Nachtluft hing, wie an einem unsichtbaren Nagel. Dann stieg das Lichtwesen in die Höhe und schwebte dem Berge Porot zu. Als es hinter der Bergspitze verschwunden war, ging ein Raunen durch die versammelte Tiermenge.
Mancher wollte der Elfe nun Fragen stellen. Doch sie war bereits wieder gegangen.

Auch in den Tagen danach gab sie niemandem Auskunft über Koloss, den Stern und die seltsame Prozession zur Bärenhöhle. Doch jeden Abend, wenn die Dunkelheit sich über das Tal am Fuße des Berges Porot senkte, saß sie auf dem Ast der Silberlinde und blickte zum Himmel, um zu sehen, ob das Lichtwesen wieder seinen Platz eingenommen hatte.



nach oben

Zurück zur Startseite